Die unbekannten Statuen auf den Dächern von Prag
Der Fotograf Amos Chapple aus Neuseeland lebt in Prag. Nun hat ihn die Coronakrise gezwungen, länger als sonst in seiner Wahlheimat zuzubringen. Daraus entstanden ist ein Projekt, bei dem er Skulpturen und Statuen fotografiert hat, die hoch oben auf den Dächern historischer Gebäude stehen. Es sind Kunstwerke, die von den meisten Spaziergängern und Besuchern in Prag übersehen werden. Dabei sind sie spannend und schön. Die Aufnahmen sind mittlerweile ein Hit im Internet geworden. Gegenüber der englischen Redaktion von Radio Prag International hat Amos Chapple sein Projekt erläutert. Im Folgenden eine Zusammenfassung der interessantesten Passagen.
Amos Chapple ist eigentlich Reise-Fotograf. Gerne macht er Aufnahmen auch in luftigen Höhen. So sind auf seinem Internetauftritt unter anderem Bilder aus dem georgischen Kaukasus zu finden oder eine Winteraufnahme der Peter-und-Paul-Kathedrale in St. Petersburg. Warum aber jetzt die Fotografien aus Prag?
„Sie sind eine Art Liebeserklärung an Prag. Ich lebe mittlerweile seit vier Jahren hier und meine Frau seit drei Jahren. Wir sind einfach so gerne hier. Zugleich ist es unglaublich schwer, die Stadt auf neue Weise zu fotografieren. Und als Reise-Fotograf bin ich die Hälfte des Jahres in der Welt unterwegs. Wenn ich dann hierher zurückkomme, habe ich meist keine Energie mehr für weitere Foto-Sessions. Jetzt bin ich sozusagen im Land gefangen, denn die Grenzen sind ja zu. Das hat mir die Gelegenheit gegeben, die Stadt zu erkunden und auf neue Weise abzulichten“, sagt der junge Neuseeländer.
„Die Fotos sind eine Art Liebeserklärung an Prag.“
Entstanden sind knapp 20 Aufnahmen. Sie zeigen zum Beispiel einen Frauen-Akt mit einer Lampe als Kopf auf dem Deym-Palais in der Prager Neustadt. Auch die Ornamente am Dachgesims des Goethe-Instituts am Moldauufer hat Chapple in einem Bild festgehalten. Auf einem weiteren Foto ist die Figur des Atlas auf dem Klementinum zu sehen, dieser trägt eine metallene Weltkugel auf seinem Rücken.
„Den Atlas habe ich erstmals entdeckt, als ich auf der anderen Seite des Moldauufers stand. Aber er ist schwer zu erkennen, dies geht nur von ein paar wenigen Orten aus. Ich habe ihn dann mit der Linse herangezoomt und dachte: ‚Wow, den musst du dir von näher anschauen.‘ Dann ist man da oben, die Stadt und ihre Geschichte liegen einem zu Füßen, und man erfährt, dass die Statue bereits seit etwa 1700 dort oben steht. Das ist wirklich aufregend.“
Amos Chapple hat seine Dachfotos aus Prag auf Facebook veröffentlicht. Dabei konnte er im Nachhinein noch spannende Details aus der Geschichte der einzelnen Kunstwerke erfahren. So erzählt der Fotograf von einem Kommentar zu einer der geflügelten Figuren auf der Svatopluk-Čech-Brücke:
„Auf Facebook schrieb jemand, dass das Hotel Intercontinental im Hintergrund der Aufnahme an jenem Ort steht, an dem Franz Kafka einst gelebt hat und unter anderem seine Erzählung ‚Die Verwandlung‘ schrieb. Kafka muss demnach von dort aus gesehen haben, wie die Brücke gebaut wurde. Für mich war das bisher die tollste Reaktion auf meine Bilder. Auf genau so etwas habe ich auch gehofft – dass ich so kleine Leckerbissen über Prag erfahre.“
Denn wie Amos Chapple betont, fasziniert ihn die gesamte tschechische Geschichte…
„Ich komme ja aus Neuseeland, und dort haben wir keine sehr inspirierende Nationalgeschichte. Sie basiert eigentlich auf einem Handel mit Ländereien, als Briten und weitere Europäer dort hinkamen, den Maori ihr Land wegkauften, es aufteilten und wieder verkauften. Das ist unsere Gründungsstory. Wenn man das dann mit dem Kampf der tschechischen Legionen im Ersten Weltkrieg, dem Widerstand gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg oder der Auflehnung gegen die sowjetische Besatzung vergleicht, ist eigentlich jeder Aspekt der tschechischen Geschichte inspirierend.“
Ganz besonders faszinierend sei für ihn aber das Schicksal der Attentäter auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich vom Mai 1942 gewesen, sagt der Reisejournalist. Noch bevor er nach Tschechien gekommen sei, habe er den historischen Roman des französischen Autors Laurent Binet gelesen, der genau dieses Thema behandle, so Chapple.
„Erst wenn man oben steht, sieht man, wie präzise alle gearbeitet ist.“
Doch zurück zu den Skulpturen und Statuen auf den Dächern von Prag. Unter ihnen hat der Fotograf auch ein Lieblingsstück ausgemacht:
„Ich würde sagen, es sind die Feuerwehrleute auf dem Versicherungsgebäude am Altstädter Ring (Nr. 6, in dem Gebäude ist heute das Ministerium für Regionalentwicklung untergebracht, Anm. d. Red.). Im Netz habe ich diese schon beschrieben. Man kann da sogar Details wie emporschlagende Flammen und Rauch im Hintergrund der Feuerwehrleute erkennen. Wie präzise das alles gearbeitet ist, wird einem aber erst klar, wenn man oben ist. Da sieht man die Gesichtsausdrücke der Feuerwehrleute, ihre Abzeichen und Weiteres. Das ist einfach wundervoll. Ich habe einmal eine Biographie über Steven Jobs gelesen und kann mich an einen Moment aus seiner Jugend erinnern, als er einen Zaun anmalte. Sein Vater sagte ihm, er solle auch die Stellen ausmalen, die ein Passant niemals erblicken werde. Und viele der Kunstwerke auf den Dächern in Prag haben dieselbe Fürsorge erhalten. Es ist wirklich cool, wenn man das direkt vor Augen hat.“
Die Aufnahmen von Amos Chapple animieren einen, häufiger einmal nach oben zu schauen auf dem Weg durch Prag. Einige der Reaktionen seien auch wirklich in diese Richtung gegangen, bestätigt der Fotograf:
„Das war auch für mich so. Ich wohne einfach nur in Prag. Wenn man aber damit beginnt hinaufzuschauen, dann fällt einem immer mehr auf. Das sind nicht nur Skulpturen und Figuren auf den Gebäuden, sondern auch weitere Kunstwerke an den Fassaden. Prag ist so reich daran, dass ich dies wirklich bis zum Ende meines Lebens erforschen könnte.“
Bisher hat Chapple rund 20 Aufnahmen dieser Art gemacht. Seinen Aussagen nach möchte er aber gerne noch weitere anfertigen – aber vielleicht nicht nur das…
„Man könnte das auch zu einem breiteren Thema ausbauen – vielleicht tschechienweit oder sogar europaweit. Manche solcher Figuren etwa in Italien befinden sich 100 oder 120 Meter über der Erde, und niemand sieht sie. Das heißt, daraus ließe sich wahrscheinlich schon ein größeres Projekt machen.“
Die gesamte Sammlung an Fotos der Prager Dachkunst hat Amos Chapple auf Facebook veröffentlicht.