Die Wahl als Qual: Abgrund zwischen politischen Eliten und Bürgern europaweites Problem
Wer die Wahl hat, hat die Qual: Am Freitag und Samstag konnten die Tschechinnen und Tschechen für eine von insgesamt 25 Parteien, die bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus kandidierten, ihre Stimme abgeben. Mehr als 35 Prozent der Wahlberechtigten aber ließen sich nicht vom Wählen quälen und blieben den Urnen fern. Mit dieser Einstellung befinden sich die Tschechen europaweit in recht guter Gesellschaft, besonders der postkommunistische Bürger gibt sich nicht sehr demokratisch. Sandra Dudek hat sich über das Demokratieverständnis in Tschechien und anderen EU-Ländern erkundigt:
"Nein, ich gehe nicht wählen, weil ich glaube, dass ich mit meiner Stimme nichts beeinflusse. Wenn ich jemandem oder irgendeiner Partei meine Stimme gebe, dann ändert sich nichts. Ich interessiere mich nicht für die Parteiprogramme. Es ist jedes Mal dasselbe, die Parteien versprechen etwas, das sie nicht halten."
Zdenek Uhlir, Angestellter in einem Prager Selbstbedienungsrestaurant, gehört zu jenen 20 Prozent der tschechischen Bürger, die sich nicht einmal die Mühe gemacht haben, die Vorwahlkampagnen der Parteien zu verfolgen oder sich mit deren Inhalten auseinanderzusetzen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CVVM haben sich knapp zwei Drittel der Bürger kaum oder überhaupt nicht für das Geschehen rund um die Wahlen interessiert und verbrachten, wie die Ergebnisse nun verdeutlichen, ihr Wochenende lieber wahllos. Obwohl die Wahlbeteiligung diesmal ein weniger höher war als bei den letzten Parlamentswahlen, macht sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs insgesamt ein Abwärtstrend bemerkbar: Während die Wahlbeteiligung bei den ersten Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Jahr 1990 noch bei 98 Prozent lag, erreichte sie im Jahr 2002 einen bisherigen Tiefstand von nicht einmal 60 Prozent und stieg am vergangenen Wochenende wieder leicht auf knapp 65 Prozent an. Dem gegenüber stehe die allgemeine Auffassung von der Wichtigkeit, an den Wahlen teilzunehmen, so Jan Cervenka vom CVVM:
"Im Vergleich mit der Wahlbeteiligung bei den letzten Parlamentswahlen ist der Anteil der Befragten, die meinen, dass es wichtig sei zu wählen, verhältnismäßig hoch. In der Umfrage gaben drei Viertel der Befragten an, dass es auf jeden Fall wichtig oder eher wichtig sei, dass die Leute zu den Wahlen gingen."Die Wahlen zum Abgeordnetenhaus werden als "Wahlen erster Klasse" wahrgenommen, durch die man über die Zukunft des eigenen Landes mitbestimmen kann, meint die an der Akademie der Wissenschaften tätige Politologin Petra Rakusanova. Das Interesse am Urnengang sinke jedoch stark mit dem relativen Einfluss, wie Rakusanova mit einem Hinweis auf das Jahr 2004 verdeutlicht: Bei den für Tschechien ersten Wahlen zum Europäischen Parlament gaben nicht einmal 30 Prozent der Bürger ihre Stimme ab. Nur in Estland, Polen und der Slowakei traten im Verhältnis noch weniger Leute den Gang zur Urne an. Das Potenzial einer aktiv gelebten Demokratie werde eben nicht ausgeschöpft, erklärt Petra Rakusanova:
"Es ist notwendig, dass die Bindung zwischen der politischen Elite und den Bürgern, die gegenwärtig nicht ganz funktioniert, enger wird. Wir können feststellen, dass der postkommunistische Bürger eher passiv ist - und zwar sowohl politisch, als auch bürgerlich. Er ist vor allem deshalb gleichgültig, weil er den negativen Erinnerungen an die erzwungene Partizipation vor dem Jahr 1989 begegnet. Es hat sich im Grunde genommen noch keine ausreichend starke politische Kultur entwickelt, die das korrigieren könnte."
In Polen ist die Wahlbeteiligung noch geringer als hierzulande: Bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2005 haben nur 40 Prozent der Bevölkerung ihre Stimme abgegeben. Trotzdem sei für Tschechien nicht alles so pessimistisch zu sehen, denn in den letzten Jahren sei insbesondere die Bürgerbeteiligung gewachsen, so Rakusanova. Es muss eben eine neue, politisch gebildete und aktive Generation heranwachsen. Die Angehörigen der derzeit mittleren Generation haben die größten Schwierigkeiten mit gelebter Demokratie, da sie im Kommunismus aufgewachsen und sozialisiert worden sind. Im Gegensatz dazu ist der älteren Generation die Bedeutung politischer Kultur noch aus den Jahren 1945 bis 1948 bekannt, was sich auch in der Wahlbeteiligung niederschlägt. Dazu Jan Cervenka vom Meinungsforschungsinstitut CVVM:"Wenn es um die Struktur geht, dann gibt es bei der Gruppe, die eine höhere Ausbildung hat, eine weit höhere Tendenz wählen zu gehen, und auch bei der älteren Generation, wobei es hier wieder unabhängig von der Ausbildung ist. Außerdem hängt es von der politischen Orientierung ab. Unsere Umfrage hat ergeben, dass insbesondere für jene Leute die Wahlbeteiligung sehr wichtig ist, die auf der politischen Skala entweder besonders weit rechts oder besonders weit links stehen."
Was in den neuen EU-Mitgliedsländern fehle, so die Politologin Petra Rakusanova, sei eine politische Bildung, wie es sie zum Beispiel in Deutschland gebe. Doch auch hier sieht es mit der Wahlbeteiligung nicht so rosig aus: Knapp 70 Prozent betrug sie bei den letzten Wahlen zum Bundestag. Trotzdem liegt sie noch über jener in beispielsweise Frankreich und Portugal, wo in etwa gleich viele Bürger ihr Parlament wählen wie in Tschechien. Im Vergleich dazu nehmen die Österreicher ihre Nationalratswahl ziemlich ernst: Mehr als 80 Prozent beträgt dort die Wahlbeteiligung.
In Tschechien sei es wichtig, dass den Leuten erklärt werde, wie Demokratie funktioniere, weil ein großer Teil ihrer allgemeinen Unzufriedenheit damit zusammenhänge, dass sie an die Demokratie unrealistische Erwartungen stellen würden, die in keinem Fall erfüllt werden könnten. Außerdem müsse sich das Zusammenspiel zwischen den Politikern und den Bürgern verbessern. Dieses Manko ist allerdings kein typisch tschechisches, wie Rakusanova erläutert:
"Plan D", so heißt das neue Schlagwort in den Obersten Gremien der Europäischen Union und es steht für Demokratie, Dialog und Diskussion. Über verschiedene Kommunikationskanäle wird versucht, die EU-Bürger noch mehr in die Entscheidungsprozesse der Europäischen Union einzubinden. Eine Reihe an Möglichkeiten direkter Mitbestimmung gebe es schon heute, meint Rakusanova, wie beispielsweise die in der Europäischen Verfassung verankerten Bürgerinitiativen, Plattformen zur Einbindung der Bürgergesellschaft und auch die nationalen Parlamente würden sich immer mehr den Bürgern öffnen. Insgesamt sei die tschechische Politik in gewissem Maße der westlichen sehr ähnlich und es würde auch verstärkt eine Zusammenarbeit der Schwesterparteien stattfinden. Allerdings gebe es einen markanten Unterschied, so Rakusanova:
"Ich glaube, der größte Unterschied ist die nicht entwickelte politische Kultur. Was ich sehr negativ sehe, ist die Unfähigkeit der Politiker, eine Debatte mit einer gewissen Kultur zu führen, und dass politische Streitigkeiten immer personalisiert werden. Die meisten Streitigkeiten in Tschechien sind keine politischen oder ideologischen, sondern solche zwischen den einzelnen Personen."
Ob eine neue Legislaturperiode mit einer neuen Regierung und so manch neuem Gesicht die politische Kultur verändert, bleibt abzuwarten.
Folgende Hinweise bringen Ihnen noch mehr Informationen über den Integrationsprozess Tschechiens in die Europäische Union:
www.integrace.cz - Integrace - Zeitschrift für europäische Studien und den Osterweiterungsprozess der Europäischen Union
www.euroskop.cz
www.evropska-unie.cz/eng/
www.euractiv.com - EU News, Policy Positions and EU Actors online
www.auswaertiges-amt.de - Auswärtiges Amt