Die Zeitschrift "Vedem" in Theresienstadt

Unterkunft in Theresienstadt, Petr Ginz

Unter den insgesamt rund 140.000 Insassen des Ghettos Theresienstadt waren auch Tausende von Kindern. Viele von ihnen kamen bereits als Waisen in die Stadt, andere wurden hier von ihren Eltern getrennt. Die Kinder und Jugendlichen waren in besonderen Heimen untergebracht. In der ehemaligen Schule von Theresienstadt befand sich ein Knabenheim für Jungen im Alter von 10 bis 16 Jahren. Auf dem Dachboden wurden die Jungen heimlich unterrichtet, in der Turnhalle fanden Theater und Konzerte statt, unter anderem auch Aufführungen der Kinderoper Brundibar von Hans Krasa, aus der sie heute Ausschnitte hören. Die Jungen von Heim 1 brachten sogar eine eigene Zeitung heraus "Vedem" hieß diese, übersetzen kann man dies als "wir führen, wir sind die ersten". Am 18. Dezember 1942 erschien die erste Ausgabe.

"Erschöpfte Menschen ziehen durch die Strasse

die Kinder sind ganz bleich

sie tragen schwere Rucksäcke

der Transport nach Polen fährt gleich.

Es fahren die Alten

Es fahren die Jungen

Es fahren die Kranken

Es fahren die Gesunden

Werden sie überleben?"

Valter Eislinger  (1913-1945)
Das Gedicht des 14jährigen Zdenek Weinberger ist eines von zahlreichen, die in der Zeitschrift "Vedem" zwischen Dezember 1942 und Sommer 1944 erschienen. Jiri Brady kam im Mai 1942 als 14jähriger in das Ghetto, auch er wohnte im Heim 1:

"Ich hatte das Glück, dass wir in der ehemaligen Schule wohnten, in den Klassenräumen. In unserer Klasse waren wir 42 Jungen. Wir hatten das Glück, dass unser Leiter Valtr Eisinger war. Prof. Eisinger sagte, dass wir Jungs unsere eigene Selbstverwaltung aufbauen sollten, wir sollten entscheiden, wer was machen soll. Wir haben beschlossen, eine eigene Republik zu gründen. Wir haben unseren Präsidenten gewählt, wir haben entschieden, wer für das Essen sorgen muss, wer aufräumen muss, wer sich um die Kranken kümmert."

Die Republik erhielt den Namen "Schkid" nach einem Buch über ein Waisenheim im nachrevolutionären Russland. Der Gymnasiallehrer Valtr Eisinger hatte den Jungen viel über die dort herrschenden Ideale erzählt. Die 12 bis 15jährigen Jungs entwarfen nicht nur eine Fahne und Verfassung der geheimen Republik Schkid, die erfanden auch ihre Hymne und gaben eine Zeitung heraus. Diese erschien allerdings nur in einem Exemplar, das stets am Freitagabend vorgelesen wurde. Jiri Brady erinnert sich:

Vedem
"Die Zeitschrift wurde handschriftlich verfasst, d.h. zuerst auf einer alten Schreibmaschine, bis das Farbband nicht mehr ging. Die Zeitschrift erschien einmal in der Woche, zwei Jahre lang. Insgesamt waren dies 800 Seiten, 100 Jungen haben das Zimmer bewohnt, immer wieder wurden welche in den Osten geschickt, immer wieder kamen neue."

In der Zeitschrift erschienen Gedichte und Zeichnungen, Anekdoten, Berichte über Kulturveranstaltungen und Reportagen über Theresienstadt:

"Wenn ich einen roten oder weißen Zettel mit dem Buchstaben M oder J erhalte, nehme ich Handtuch, Seife, Waschlappen und begebe mich ins Hohenelbe-Zentralbad. Dort stelle ich mich in den Haufen von Männern oder Jungen, die warten, bis sich die Tür öffnet. ... Das Zentralbad hat zwei Duschräume und ein Bassin, in das man nur selten kommt. In dem Raum bedient ein Junge den Wasserhahn: er dreht ihn zweimal in Intervallen von sieben Minuten auf. In der Pause dazwischen seift man sich ein."

Petr Ginz
Leitender Kopf der Zeitschrift war der aus Prag stammende, 14jährige Petr Ginz. Er sorgte dafür, dass sich alle Jungs an der Zeitung beteiligten und Texte verfassten. Petr Ginz illustrierte seine Texte selbst. Eines seiner Bilder erlangte 60 Jahre nach seiner Entstehung Weltruhm: der erste israelische Astronaut Ilan Ramon, dessen Weltraummission Anfang dieses Jahres so tragisch endete, nahm Petr Ginz Bild "Mondlandschaft" mit in das All.

"Ich habe nur sehr wenig geschrieben, weil ich gearbeitet habe. Aber die anderen Jungen hatten wirklich mehr Begabung. Einer von ihnen war Petr Ginz, dessen Bild in den Weltraum ging. Mit Petr Ginz habe ich über zwei Jahre zusammengewohnt, mit ihm kam ich auch nach Auschwitz. Er ging damals in die eine Richtung, ich in die andere. Ich hatte keine Ahnung, dass die anderen direkt ins Gas gingen." (Jiri Brady)

Die Zeitschrift überlebte im Gegensatz zu den meisten ihrer Verfasser den Krieg - von den rund 100 Jungen, die die geheime Republik Schkid zwischen 1942 und 1944 bewohnten, überlebten nur 15 den Holocaust. Auch Valtr Eisinger, der es geschafft hatte, den Jungen ein Gefühl von Zuhause zu geben, und sie durch seinen Enthusiasmus zu ungeahnten Leistungen angespornt hatte, kam um - wahrscheinlich während eines der Todesmärsche. Jiri Brady kehrte nach Kriegsende nach Prag zurück:

Unterkunft in Theresienstadt,  Petr Ginz
"Nur einer von den 100 Jungs blieb die ganze Zeit in Theresienstadt. Sein Vater war Schmied und kümmerte sich um die Pferde der SS-Leute und so konnte Zdenek Taussig die Zeitschrift in der Schmiede verstecken und so hat sie überlebt. Nach dem Krieg emigrierte Taussig 1946 in die USA. Die Zeitschrift übergab er mir. Ich habe sie nicht als etwas Besonderes oder als historisches Dokument betrachtet und in einer Schuhschachtel zuhause aufbewahrt. Als ich 1949 emigrierte habe ich sie Kurt Kotouc gegeben. Der entschied, daraus ein Buch zu machen. Aber die Kommunisten haben verboten, so ein Buch herauszugeben, weil es angeblich antikommunistische, zionistische Propaganda war, was natürlich Unsinn war. So erschien das Buch zunächst illegal im Samizdat."

Die Reportagen über Theresienstadt hatten Themen wie die Kinderküche, das Krematorium oder die Zentralleichenkammer:

"Die Zentralleichenkammer befindet sich fast an der Grenze von Theresienstadt. Sie ist tief in den Schanzen untergebracht. Ihr Eingang sieht wie ein Höllentor aus. Jeden Augenblick kommt knarrend ein Gefährt mit einer Leiche angefahren und dahinter weiß gekleidete Träger. In den Sackgassen der Korridore sind Brettersärge gestapelt. Manche sind voll, zum Abtransport vorbereitet, andere sind leer."

Erst nach 1989 konnte das Buch über die Republik Schkid und die Zeitschrift "Vedem" in Tschechien offiziell publiziert werden. 1995 erschien das Buch unter dem Titel " Ist meine Heimat der Ghettowall? Gedichte, Prosa und Zeichnungen der Kinder von Theresienstadt" in Deutsch. Aus dieser Ausgabe stammen auch die heutigen Zitate, wie das folgende Gedicht des 14jährigen Hanus Hachenberg, der den Holocaust nicht überlebte:

"Was bin ich?

Zu welchem Volk gehöre ich?

Ich, auf ziellosen Irrwegen ein Kind.

Ist meine Heimat der Ghettowall

Oder ist sie das Land mit den Knospen so lind,

vorwärts stürmend, lieblich und klein -

Will Böhmen, will die Welt meine Heimat sein?

Ich stehe hier mit meiner Seele ein und sage:

Bin ein Mensch dieser Welt, nun vorwärts denn!"