Doppelmoral: Tschechiens Umgang mit Geflüchteten

Flucht und Migration

Seit Februar 2022 sind insgesamt etwa 900.000 ukrainische Flüchtlinge nach Tschechien gekommen. Knapp 400.000 von ihnen haben hierzulande vorübergehend ein Zuhause gefunden und sind geblieben. Im Gegensatz dazu hat Tschechien während der sogenannten Flüchtlingskrise um das Jahr 2015 fast gar keine Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten aufgenommen. Wie ist es möglich, dass die damalige stark flüchtlingsfeindliche Stimmung nun abgelöst wurde von einer relativen Freundlichkeit und Offenheit? Und wie läuft die Integration der ukrainischen Flüchtlinge in die tschechische Gesellschaft? Ein Thema für die sechste – und zugleich letzte – Folge des Podcasts „Sechsmal Tschechien“, der in Kooperation mit der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung entsteht.

„Sechsmal Tschechien“ – ein Podcast, sechs Folgen, sechs Themen

https://www.slpb.de/veranstaltungen/veranstaltungsreihen/podcast-sechsmal-tschechien

Bereits vor dem Februar 2022 lebten etwa 200.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Tschechien. Auch aus diesem Grund habe sich ein großer Teil der ukrainischen Flüchtlinge nach der russischen Invasion zur Flucht nach Tschechien entschlossen, sagt Martin Rozumek, der Leiter der Organisation für Flüchtlingshilfe:

Martin Rozumek | Foto: Kateřina Cibulka,  Tschechischer Rundfunk

„Nach unseren Schätzungen haben bisher etwa 900.000 ukrainische Flüchtlinge den Prager Hauptbahnhof passiert. Davon haben etwa 560.000 einen vorübergehenden Schutzstatus in der Tschechischen Republik erhalten, die übrigen sind in andere EU-Länder weitergereist. Derzeit halten sich etwa 380.000 ukrainische Flüchtlinge, hauptsächlich Frauen mit Kindern, in Tschechien auf. Das ist eine enorm hohe Zahl. Früher hat Tschechien aufgrund seiner restriktiven Politik weniger als 2000 Asylanträge pro Jahr bearbeitet, von denen schließlich nur ein paar hundert bewilligt wurden. Es handelt sich also um eine große Veränderung für das ganze Land. Ich muss sagen, dass mich die aufwallende Solidarität und der Umschwung in der tschechischen Gesellschaft sehr positiv überrascht haben.“

Welle der Solidarität mit Ukrainern

In den ersten Monaten nach dem russischen Einmarsch war die Unterstützung für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge gleichbleibend hoch. Jaromír Mazák ist Soziologe und wissenschaftlicher Leiter beim Meinungsforschungsinstitut Stem:

Jaromír Mazák | Foto: Karolína Němcová,  Tschechischer Rundfunk

„Das hat sich sowohl in der Stimmung gespiegelt, denn etwa 70 Prozent der Öffentlichkeit haben zu Beginn die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge unterstützt, als auch in konkreten Aktionen. Wir haben eine große Welle der Solidarität erlebt. Seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine bis heute haben die Tschechen etwa sechs Milliarden Kronen (240 Millionen Euro, Anm. d. Red.) an Hilfsgeldern gesammelt. Der größte Teil dieser Summe, etwa fünf Milliarden, floss in humanitäre Projekte, und eine Milliarde in Waffen, Munition sowie Verteidigungsmittel.“

Jaromír Mazák weist gleichzeitig darauf hin, dass sich hinter den 70 Prozent Unterstützung viele außergewöhnliche Geschichten und konkrete Schicksale verbergen.

„Zum Beispiel haben Menschen Computer für Mütter mit Kindern gespendet, damit diese per Videoschalte ihre in der Ukraine verbliebenen Ehemänner oder Väter anrufen konnten. Ich habe aber auch mit einem jungen Mann gesprochen, der einen Lieferwagen hatte, den er als Camper nutzte. Er kam zu dem Schluss, diese Lebensphase sei nun vorbei, und dass andere diesen Wagen nun nötiger brauchten. Also fuhr er ihn selbst in die Ukraine und stellte ihn der ukrainischen Armee zur Verfügung. Diese Geschichten veranschaulichen die tschechische Unterstützung für die Ukraine besser als jede Statistik. Die tschechische Gesellschaft hat zu Anfang die Ärmel hochgekrempelt und war sehr hilfsbereit und solidarisch“, so Mazák.

Ukrainische Flüchtlinge | Foto: René Volfík,  Tschechischer Rundfunk

Laut dem Soziologen identifizieren sich die Tschechinnen und Tschechen wegen ihrer eigenen historischen Erfahrungen mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen im Jahr 1968 mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. Die Unterstützung für die Ukraine und die ukrainischen Flüchtlinge ist hierzulande nach wie vor relativ stark und stabil, obwohl seit Beginn der russischen Invasion bereits über zwei Jahre vergangen sind. Jaromír Mazák:

„In der ganzen Zeit gab es nur einen einzigen starken Einbruch, und zwar gleich in der ersten Hälfte des Jahres 2022, als die öffentliche Unterstützung für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge von 70 auf etwa 55 bis 60 Prozent fiel. Dabei ist es allerdings auch geblieben. Etwa 53 Prozent der tschechischen Öffentlichkeit sind weiterhin für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge. Wir sehen also, dass die Haltung der tschechischen Öffentlichkeit in diesen Fragen relativ stabil ist“

Foto: René Volfík,  iROZHLAS.cz

Die Unterstützung von Seiten der Öffentlichkeit bedeutet jedoch nicht automatisch, dass die Umsetzung der Flüchtlingshilfe gut gemeistert wird und die Integration der Flüchtlinge aus der Ukraine reibungslos verläuft. In den ersten Monaten habe die Hauptlast auf den Schultern der NGOs gelegen, erinnert sich Martin Rozumek:

„Die Anfangsphase hat der Staat verschlafen. Die Hauptaufnahmestelle für Flüchtlinge war der Hauptbahnhof in Prag, wo unsere gemeinnützige Organisation für Flüchtlingshilfe in Zusammenarbeit mit der Prager Stadtverwaltung, dem Roten Kreuz und der Feuerwehr die komplette Organisation übernahm. Der Staat selbst hatte kein Konzept. In den ersten Monaten hat er völlig versagt, erst später ist er langsam aufgewacht. Außerdem ist die staatliche Migrationspolitik langfristig sehr restriktiv ausgelegt. Doch die Menschen aus der Ukraine waren nun einmal schon da, also musste der Staat irgendwie damit fertig werden.“

Trotz der Defizite sei es dem tschechischen Staat mit Unterstützung der gemeinnützigen Organisationen gelungen, der großen Mehrheit der ukrainischen Flüchtlinge menschenwürdige Lebensbedingungen zu sichern, meint die Regierungsbeauftragte für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková. Seit Februar 2023 ist sie zugleich nationale Koordinatorin für die Eingliederung und Integration der Flüchtlinge aus der Ukraine.

Klára Šimáčková Laurenčíková | Foto: Alžběta Boháčová,  Tschechischer Rundfunk

„Wir haben es geschafft, relativ schnell und effektiv ein Registrierungssystem aufzubauen, den Ankommenden vorübergehenden Schutz zu gewähren, humanitäre Leistungen auszuzahlen, die Flüchtlinge in die Krankenversicherung einzugliedern und sogar den Arbeitsmarkt für sie zu öffnen. Mittlerweile arbeiten bereits 72 Prozent der Flüchtlinge im erwerbsfähigen Alter. In der Tschechischen Republik gibt es auch ein relativ großes Angebot an Sprachkursen. Über 70 Prozent der Flüchtlinge leben bereits in regulären Mietwohnungen, und wir freuen uns zudem darüber, dass es uns gelungen ist, die meisten Kinder im schulpflichtigen Alter in Regelschulen, das heißt, in den normalen Unterricht zu bringen. Es gibt keine separaten Schulen für ukrainische Kinder“, so die Regierungsbeauftragte.

Hilfszentrum für die Integration

Ein historisches Palais auf dem Altstädter Ring. Genau hier, im Herzen von Prag, sitzt das kommunale Zentrum Svitlo, das Flüchtlingen aus der Ukraine hilft. Es ist angedockt an das ‚Skautské Institut‘, also das Pfadfinderinstitut. Olga Cherepiuk ist die Leiterin:

Foto: René Volfík,  iROZHLAS.cz

„Das hier ist unsere Zentrale. Ich zeige Ihnen die beiden wichtigsten Räume. Hier befindet sich die Kinderecke, die auch als Werkraum dient. Mütter können an jedem Wochentag ihre Kinder zu uns bringen. Diese sind dann unter pädagogischer Aufsicht, während die Mütter einen Tschechisch-Kurs besuchen, einer Arbeit nachgehen oder zum Beispiel auch andere wichtige Dinge erledigen. Ihr Kind ist die ganze Zeit in guten Händen. Wir veranstalten hier auch Kurse für Kinder verschiedenen Alters. Wir haben wunderbare Lehrerinnen, unter deren Anleitung sich die Kleinen in alle möglichen Richtungen ausleben können. Es gibt zum Beispiel Malkurse, aber auch viele andere Angebote.“

Zu sehen sind wunderschöne Kinderteppiche und eine Menge Spielzeug. Aber auch Schreibtische, an denen die Kinder malen können. Und von dort geht es weiter in einen zweiten großen Raum. Er sieht eher aus wie ein Klassenzimmer…

„Hier finden Tschechisch- und Englischkurse statt. Wir fangen auch an, Seniorentreffs zu organisieren sowie IT-Kurse. Außerdem ist hier die Bibliothek. Wir haben Bücher auf Tschechisch und Ukrainisch, für Erwachsene und für Kinder. Und es gibt einen Computer mit Drucker. Das alles steht unseren Gästen zur freien Verfügung“, so Cherepiuk

Svitlo | Foto: David Růžička,  Tschechischer Rundfunk

In den zwei Räumen organisiert das Zentrum Svitlo ein dichtes Programm – von den verschiedensten Events und Hilfsmaßnahmen über Beratung bis hin zur Arbeit mit den Kindern.  Die Leiterin:

„Wir machen viel. Zu unseren Angeboten gehören zum Beispiel sozialpsychologische und rechtliche Beratung, gruppentherapeutische Angebote für Kinder und Erwachsene, Kunsttherapie oder Märchentherapie. Wir organisieren des Weiteren Vorbereitungskurse für Aufnahmeprüfungen in Mathematik und Tschechisch, Vorschulkurse oder Englischkurse für Kinder. Momentan beginnen die Kurse zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Was wir ebenso ermöglichen wollen, sind unterschiedliche sportliche Aktivitäten – Zumba, Bachata oder Yoga, für Kinder auch noch Aikido. Das hat sich als sehr erfolgreich erwiesen. Wir sehen, wie glücklich und begeistert diese Menschen sind, wenn sie die Möglichkeit haben, sich körperlich zu betätigen und dabei Zeit in ihrer Community zu verbringen.“

Olga Cherepiuk ist von Anfang an dabei im kommunalen Zentrum Svitlo. Sie hat die Einrichtung mit aufgebaut.

„Svitlo ist Ende April 2022 entstanden. Ich erinnere mich, als wir die neuen Räume bekommen haben. Sie standen komplett leer, und wir mussten sie erst einmal ausmalen, reinigen und Möbel auftreiben. Das bedeutete wirklich viel Arbeit. Aber das war es wert. Ich denke, das kommunale Zentrum ist zu einem sicheren Ort für Menschen geworden, die aus der Ukraine geflohen sind. Alle fühlen sich wohl hier.“

Cherepiuk gehört selbst auch zu den Menschen, die die Ukraine nach dem Februar 2022 verlassen mussten. Doch wie fühlt sie sich in Tschechien? Kommt sie gut zurecht, vielleicht auch dank des kommunalen Zentrums? Oder stößt auch sie auf Hindernisse?

Svitlo | Foto: David Růžička,  Tschechischer Rundfunk

„Ende Februar 2022 bin ich nach Tschechien gekommen. Ich wollte mein Kind retten, ich habe einen Sohn, der inzwischen acht Jahre alt ist. Für Tschechien habe ich mich entschieden, weil meine Eltern hier leben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es geschafft hätte, irgendwohin zu gehen, wo ich niemanden kenne. Deswegen bin ich dem Umfeld, das ich habe, sehr dankbar. Es ist so eine Art soziale Bubble, in der ich mich wohl fühle. Ich spüre die Unterstützung der Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Als ich Anfang April 2022 hierher ins Pfadfinder-Institut gekommen bin, konnte ich fast gar kein Tschechisch. Aber dank meiner Kollegen, dank ihrer Unterstützung konnte ich mich hier selbst verwirklichen. Das kommunale Zentrum Svitlo ist für mich sehr wichtig. Die Leute, die hierherkommen, lachen immer und sagen, es sei mein zweites Baby – vielleicht ist es nicht einmal das zweite, sondern sogar das erste. Ich verbringe wirklich sehr viel Zeit hier. Und ich weiß, dass Svitlo auch für viele andere Menschen von Bedeutung ist, die regelmäßig hierherkommen. Das ist für mich das Wichtigste: Dass ich die Möglichkeit habe, anderen Menschen zu helfen. Und dass ich etwas tun kann, um der Ukraine zu helfen. Dass ich Menschen helfen kann, die nach Tschechien geflohen sind“, erzählt Cherepiuk.

Restriktive Asylverfahren

Trotz all dieser Probleme darf nicht vernachlässigt werden, dass sich Tschechien den Ukrainerinnen und Ukrainern gegenüber relativ entgegenkommend verhalten hat. Auch die Zustimmung in der Öffentlichkeit ist mehr oder weniger stabil. Die meisten der Geflüchteten leben in gängigen Mietwohnungen und gehen zur Arbeit. Aus den aktuellen Daten lässt sich schlussfolgern, dass sie immer weiter in die Gesellschaft integriert werden. Nicht zu allen Gruppen von Flüchtlingen haben sich die Tschechen und Tschechinnen aber derart solidarisch verhalten.

Foto: René Volfík,  iROZHLAS.cz

Ein vergleichsweise restriktiver Zugang wird unter anderem im Hinblick auf Asylbewerber aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Afrika verfolgt. Martin Rozumek von der Organisation für Flüchtlingshilfe spricht in dieser Hinsicht von einer „Zweigleisigkeit“ der tschechischen Migrations- und Asylpolitik. Geflüchtete aus verschiedenen Gegenden der Erde werden unterschiedlich wahrgenommen. Während die Menschen aus der Ukraine gesonderte Schutzvisa ausgestellt bekämen, müssten alle anderen in einem regulären Verfahren Asyl beantragen, was in Tschechien überaus schwierig sei, so Rozumek:

„Zu allen Geflüchteten, die keine Ukrainer sind, verhält sich Tschechien wesentlich schlechter. Ich würde sogar sagen, dass sich ihre Lage noch verschlechtert, denn derzeit haben sie keinen Zugang zu unabhängiger Rechtshilfe. Man muss ein Asylverfahren durchlaufen, das sehr restriktiv ist und im Grunde nicht funktioniert, denn fast niemand bekommt am Ende tatsächlich Asyl. Man braucht sich also gar nicht zu wundern, dass es im vergangenen Jahr in Deutschland 352.000 Asylanträge gab und in Tschechien nur etwa 1000. Unser Asylsystem ist eben einfach nicht funktionsfähig und sehr restriktiv.“

Foto: jaydeep_,  Pixabay,  Pixabay License

Und dabei geht es nicht nur um die Haltung der Behörden. Auch der Großteil der Bürgerinnen und Bürger unterscheidet laut Martin Rozumek zwischen ukrainischen Geflüchteten und den Flüchtlingen aus anderen Ländern:

„Am negativsten wird von der tschechischen Gesellschaft ein alleinstehender Mann aus einem muslimischen Land wahrgenommen. Seine Chancen auf die Anerkennung des Asylantrags durch tschechische Beamte sind so verschwindend gering, dass das eine Schande ist. Ich wundere mich überhaupt nicht, dass im Grunde alle Richtung Westen weiterwandern. Die Wahrscheinlichkeit, in Tschechien Asyl zu bekommen, integriert und in die Gesellschaft aufgenommen zu werden ist extrem gering.“

Auf welche Hindernisse stoßen die ukrainischen Flüchtlinge in Tschechien? Wieso unterscheiden die Tschechinnen und Tschechen zwischen ukrainischen Flüchtlingen und Geflüchteten aus anderen Regionen der Welt? Und was sagt diese „Zweigleisigkeit“ der Migrations- und Asylpolitik über die tschechische Gesellschaft aus? Die vollständige Version des Podcasts ist ab jetzt auf unserer Webseite und in allen gängigen Podcast-Apps verfügbar.

Autor: Filip Rambousek
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