Durchgangszimmer des Schicksals: Jaroslav Rudis´ "Grandhotel"

Jested

Seit seinem auch in deutscher Übersetzung erschienen Debütroman "Der Himmel unter Berlin" (2002) gilt Jaroslav Rudis als frecher Jungstar der tschechischen Literatur. Und das nicht ohne Folgen: Sein jüngst erschienener Roman "Grandhotel" hatte fast zeitgleich auch Premiere auf den tschechischen Kinoleinwänden.

Jested
Das Grandhotel, das ist der futuristische Hotelturm auf dem Berg Jested, die silbrige Nadel, die hoch über Liberec in den nordböhmischen Himmel sticht. Hier lässt Jaroslav Rudis die Schicksale seiner Helden zusammentreffen, die auf ihre Weise alle Verlorene sind: Vom cholerischen Portier Jegr bis zum verlassenen Zimmermädchen Zuzana, das in den Psychotests aus Illustrierten die Antworten auf ihre Fragen sucht. Das Hotel als Metapher: Ein Durchgangszimmer des Schicksals. Buch und Film sind parallel entstanden, erzählt Autor Jaroslav Rudis:

"Zuerst war da eigentlich die Idee, die Story für ein Buch. Aber in diesem Moment hat mich der Regisseur David Ondricek angerufen und hat mir gesagt, dass er sehr angetan war von meinem ersten Roman ´Der Himmel unter Berlin´. Und ich war natürlich auch sehr angetan, dass er mich angerufen hat, denn er liebt die Looser, die Verlierergestalten genau wie ich. Und so hat er mich gefragt, ob ich nicht etwas Neues in der Tasche habe, und so habe ich ihm die Geschichte vom Grandhotel angeboten. Er fand die gut und hat mich überredet, dass ich das zuerst als Drehbuch schreibe. So ist das entstanden: Aus der Story für einen Roman ist ein Drehbuch entstanden und am Ende habe ich wieder ein Buch daraus geschrieben."

Held der Geschichte ist die sonderlichste Gestalt unter allen, das Faktotum und der Prügelknabe des Hotels. Sein Name: Fleischman - einfach nur Fleischman.

Jaroslav Rudis  (zweiter von links)
"Er hat seinen Vornamen verloren, und nicht nur das, in den dreißig Jahren seines Lebens. Fleischman ist eine merkwürdige Person. Er ist aufgewachsen in Liberec / Reichenberg, einer Stadt an der deutsch-tschechisch-polnischen Grenze, 100.000 Einwohner, von Bergen umgeben. Aus dieser Stadt löst man sich nur schwer - Fleischman aber hat seine Stadt tatsächlich noch nie verlassen, er ist mit ihr verbunden. Seine Eltern haben ihn dort allein zurückgelassen: Sie sind emigriert, noch vor den Wende. Hier liegt wohl eine der Wurzeln seiner Probleme. Er ist besessen von der Meteorologie. Die Wolken über der Stadt, die symbolisieren für ihn die Freiheit, die für ihn nicht möglich ist, die so entfernt liegt. Er misst dreimal am Tag die Temperaturen, ist verliebt in eine Wetteransagerin aus dem Fernsehen und hatte nie eine Frau."

Wo aber sonst sollte Fleischman die Liebe finden, wenn nicht an diesem Ort der Verlorenen? Es ist das Zimmermädchen Ilja. Enttäuscht von den Seifenblasen ihres egozentrischen Freundes Patka, der nur von der Karriere in der Drückerkolonne eines Wunderputzmittels träumt, findet Ilja in Fleischman den wirklichen Träumer.

Regisseur David Ondricek
In der Geschichte geht es um die Emanzipation von sich selbst, um das Annehmen und Überwinden der eigenen Grenzen und der eigenen Geschichte. Die spiegelt sich auch in der Geschichte des Ortes - nicht umsonst spielt die Handlung in Liberec oder zu Deutsch Reichenberg, mitten im Sudetenland:

"Liberec spielt in der Geschichte eine große und wichtige Rolle, und auch die deutsch-tschechische Vergangenheit spielt eine wichtige Rolle. Im Film kann man leider nicht so einen großen Zeitraum bereisen. Das habe ich dafür in dem Buch versucht. Erzählt werden nicht nur die dreißig Jahre von Fleischman, sondern auch die Geschichte von seinen Eltern und Großeltern und durch diese Wurzeln auch die Geschichte der Stadt Liberec."

Fleischman  (Marek Taclik)
Jaroslav Rudis ist selbst in Nordböhmen geboren, in Liberec hat der heute 34-Jährige Geschichte studiert, und das nicht nur an der Universität. Aus der Liberecer Zeit stammt auch das Motiv des Grandhotels:

"Ich habe dort wirklich zwei Jahre lang in einem hundert Jahre alten Hotel in der Stadt gearbeitet, und dort habe ich sehr viel miterlebt, eher unbewusst, sozusagen. Das war kurz nach der Wende. In dem Hotel hatten wir ein Gästebuch, und dort gab es Unterschriften von ganz verschiedenen Persönlichkeiten aus dem letzten Jahrhundert - angefangen von Kaiser Franz Joseph über Edvard Benes, Adolf Hitler, Jurij Gagarin und Karel Gott! Diese Geschichte, die durch das Hotel durchgegangen, durchgeweht ist, die hat mich fasziniert, und die war wirklich auch zu spüren. Ich hatte immer panische Angst, wenn ich nachts durch die langen Korridore laufen musste: Das Hotel lebte wirklich in der Nacht aus dieser Vergangenheit. Es waren überall hunderte von komischen Geräuschen, ohne dass man finden konnte, woher sie kommen. Das war gerade in der der Zeit. als die Sudetendeutschen zurück nach Liberec gekommen sind und versucht haben, die Spuren ihrer Kindheit zu finden. Dort habe ich auch einige Geschichten miterlebt; das waren sehr starke Eindrücke."

Ilja  (Klara Issova) und Fleischman  (Marek Taclik)
Diese Erinnerungen und das Reichenberger Deutsch, das Rudis noch während seines Studiums gelegentlich in der Straßenbahn gehört hat, spiegeln sich in der Figur des 80-jährigen Sudetendeutschen Franz wieder, der in seine Geburtsstadt zurückkehrt, besessen von einer letzten Aufgabe:

"Dieser Franz, der sucht die Asche oder die Überreste von seinen Freunden aus der Liberecer Gymnasialzeit zusammen und schmuggelt die wieder zurück nach Liberec, weil er glaubt, dass die Leute dorthin gehören, wo sie geboren sind. Und ich finde, das ich richtig, dass die Leute am Ende doch den Weg nach Hause finden! Natürlich ist das etwas verrückt, zugespitzt, mit viel Ironie - aber im Grunde genommen finde ich diese Idee absolut richtig."

Franz und Fleischman - zwei Geschichten aus der Geschichte einer Stadt, die vor allem aus ihren Brüchen lebt: Liberec und Reichenberg, das ist ein Durchgangszimmer der Geschichte: das Grandhotel im Großen. Die Doppelbödigkeit des Sudetenlandes und die deutsche Vergangenheit der böhmischen Randgebiete sind für Jaroslav Rudis immer wieder ein Thema - zuletzt in der Comic-Triologie über Alois Nebel, halb Deutscher, halb Tscheche, Fahrdienstleiter am gottverlassenen Bahnhof von Bily Potok / Weißwasser. Im Dunst erscheinen ihm immer wieder Dinge, die andere nicht sehen: Züge, die aus der Vergangenheit kommen.

"Für mich ist das wichtig. Ich habe ja auch Geschichte studiert, das war natürlich kein Zufall. Ich liebe Geschichte - nicht nur das Erzählen von Geschichten, sondern auch diese unsere mitteleuropäische Geschichte. Und ich befürchte, dass das auch in Zukunft mein Thema bleibt."

Der nächste Roman von Jaroslav Rudis ist bereits angekündigt: Eine Straßenbahnfahrt mit der Prager Linie 22 durch das Revolutionsjahr 1989. Für den Roman Grandhotel wird derzeit ein deutscher Verleger gesucht. Und wer wissen will, ob sich Fleischman von seinem geliebten und gehassten Liberec lösen kann, der kann "Grandhotel" derzeit auch in Tschechien im Kino sehen - am besten natürlich in Liberec, in Reichenberg, unter dem futuristischen Turm auf dem Jested, der wie eine silbrige Nadel in den nordböhmischen Himmel sticht.