Stadtrundgang durch Liberec: Natur und Geschichte am Fuße des Ještěd

Liberec - Blick vom Rathausturm

In unserer Serie „Entdeckungsreise durch Tschechiens Kreise“ stellen wir Ihnen jeden Monat eine andere Region und ihre touristischen Schönheiten vor. Diesmal ist die Kreishauptstadt Liberec dran, der frühere deutsche Name ist Reichenberg. Die Stadt hat nicht nur viel Natur im Umland zu bieten, sondern auch eine bewegte Geschichte.

Ještěd | Foto: Klára Škodová,  Tschechischer Rundfunk

Schon von der Autobahn aus ist der Ještěd / Jeschken über der Stadt Liberec zu sehen. „Das ist unser Hausberg“, sagt Petr Kumpfe. Er ist Moderator und Journalist und führt nebenbei Reisegruppen durch seine Stadt. „Der Ještěd beeinflusst sogar den Preis der Immobilien hier. Eine Wohnung, von der aus man den Berg sieht, kostet mehr als eine, der er verborgen bleibt.“ Es gebe Oldtimer-Rennen auf den Ještěd, Wettbewerbe, bei denen man ein Fass Bier hinaufschleppen müsse, und es gebe sogar einige Leute, die dort oben heiraten würden – wie er selbst, schmunzelt Kumpfe.

In Liberec wohnt der Mann, der für den MDR wöchentlich in der Radiosendung „Mensch Nachbar“ über das Geschehen in Tschechien berichtet, seit 15 Jahren. In der Region verwurzelt ist er aber schon immer. Die Natur in der Umgebung sei einer der großen Pluspunkte seiner Stadt, so Kumpfe: „Man setzt sich in die Straßenbahn, und wenn man bis zur Endstation fährt, ist man im Gebirge. Im Winter wird das gerne genutzt. In der Tram trifft man dann Leute mit Ski, die direkt auf die Loipe gehen. Wir brauchen auch keinen großen Stadtpark – denn wir leben ja mitten darin.“

Foto: Barbora Němcová,  Radio Prague International

Aufschwung durch die Textilindustrie

Doch Liberec ist noch mehr als nur eine Stadt in der Natur. Es ist auch regionales Zentrum mit Geschichte, wenngleich diese nicht in allen Jahrhunderten gleich spannend war, wie Kumpfe zu Beginn seiner Führung aufzeigt: „1352 wurde Liberec zum ersten Mal schriftlich erwähnt. Wären wir jetzt in Olmütz, Brünn oder Prag, hätte ich viel Historisches aus dem Mittelalter zu erzählen. Das kann ich hier nicht, denn im Mittelalter war hier kaum etwas los. Ich kann Ihnen auch keine alte Burg zeigen, keine Stadtmauer und kein Stadttor, denn all das haben wir hier nicht. Die große Entwicklung der Stadt begann erst mit der Industriellen Revolution.“

Petr Kumpfe vor dem Rathaus | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

Vor allem das Stoffmacherwesen habe das damalige Reichenberg einst reich gemacht, erzählt Kumpfe an einem passenden Ort: dem Tuchplatz (Soukenné náměstí). Es gebe immer noch zahlreiche Ortsbezeichnungen wie diese, die auf die Stoffproduktion von einst hinwiesen, wenngleich die Textilindustrie heute kaum noch von Bedeutung in der Stadt sei, so der Touristenführer. Bis 1945 war zudem der deutsche Einfluss sehr wichtig in Reichenberg, schildert Kumpfe und sagt: „Meine Großeltern haben mir immer erzählt, dass der Erfolg der Böhmischen Länder in Österreich-Ungarn darin begründet lag, dass die schlauen Deutschen irgendetwas erfunden, die geschickten Tschechen es hergestellt und die gewieften Juden es verkauft haben.“

Zusammenleben von Deutschen, Tschechen und Juden

Gebäude der Generali | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

Doch das Zusammenleben der drei Ethnien sei nicht immer friedvoll gewesen: „Viele Bauten, die man hier am Tuchplatz sieht, entstammen einer gewissen Rivalität. Das ‚Palác Dunaj‘ beherbergte die Versicherung Donau-Concordia. Gleich gegenüber steht ein typisch deutscher Bau. Aus damaliger Sicht war das ein Wolkenkratzer, und auch für heutige Verhältnisse ist es noch ein Hochhaus mit relativ vielen Stockwerken. Der Stil ist sehr schlicht, der Bau könnte so auch in Berlin stehen. Der Erbauer war die italienische Versicherungsgruppe Generali.“

Doch die tschechische Minderheit in der Stadt wollte diese beiden prächtigen Häuser nicht unbeantwortet lassen. „Die Tschechen mussten nachziehen. Die Schuhmarke Baťa ließ hier deshalb in den 1930er Jahren ein modernes Kaufhaus im Bauhausstil errichten.“

Baťa-Kaufhaus | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

Gefragte Stadt, aber noch kein Boom

Edvard-Beneš-Platz | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

Auf dem Weg zum Marktplatz, dem Edvard-Beneš-Platz, erzählt Petr Kumpfe vom heutigen Leben in Liberec. Die Bevölkerungszahl steige in den letzten Jahren zwar an, von einem Boom könne aber beileibe nicht die Rede sein, meint er und klingt dabei ein wenig erleichtert. Neben der praktischen Straßenanbindung an Prag sei es auch die Grenznähe, die viele Menschen in die Stadt ziehen würde: „Wir sind hier im Dreiländereck. Man ist schnell in Polen, um günstig einzukaufen. Und man ist schnell in Deutschland, um vielleicht besseres Geld zu verdienen.“

Zurück in die Geschichte. Wir haben den Beneš-Platz erreicht, und ein bisschen fühlt man sich, als wäre hier die Zeit stehen geblieben. Das Rathaus erinnert entfernt an das in Wien – nicht ohne Grund, wie Kumpe erläutert, denn die Architekten waren dieselben. Das Rathaus in Liberec ist aber nur ein Sechstel so groß wie die Vorlage in Österreich. „Das stört aber viele Filmemacher nicht. Unser Amtsgebäude hat schon in vielen Streifen das Wiener Rathaus gespielt“, sagt Kumpfe und ist dabei vielleicht auch ein bisschen stolz.

Rathaus | Foto: Jana Volková,  Tschechischer Rundfunk

Spuren der k. u. k. Monarchie und sowjetischer Einmarsch 1968

A propos Wien: 1892 machte sich auch die Prominenz aus der Donaumetropole auf nach Nordböhmen, um das neugebaute Rathaus feierlich einzuweihen. Berichten zufolge war aber im nahegelegenen Turnov / Turnau ein Attentat auf Kaiser Franz Joseph geplant. Der Regent machte deshalb kehrt und reiste nach Wien zurück. Eröffnet wurde das Rathaus schließlich erst ein Jahr später. Über dem Portal des Gebäudes prangt aber bis heute die Jahreszahl des ursprünglichen Eröffnungstermins: 1892.

Nach 1968 wiederaufgebaute Häuser | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

Petr Kumpfe macht weiter auf eine Häuserzeile aufmerksam, die sich von den anderen verschnörkelten und verputzten Fassaden am Platz auf den ersten Blick nicht sonderlich unterscheidet. Doch der Schein trügt. „Das ist alles ein kompletter Neubau. Hinter der Fassade stehen 1980er-Jahre-Häuser“, so der Touristenführer. Der Grund: Bei der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 fuhr ein sowjetischer Panzer in die Häuserreihe, die daraufhin einstürzte. Zudem erschossen die Soldaten mit ihren Sturmgewehren einige Widerständler. An das Schicksal der Getöteten erinnert heute ein Denkmal – eine stilisierte Laufrolle eines Panzers, die an der Wand des Rathauses angebracht wurde.

Denkmal für die Opfer von 1968 | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

Der Stadtführer: Ein Tausendsassa

Theater | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

Hinter dem Bau der Stadtväter stehen die Post und das Theater. Es seien Häuser wie aus dem Musterhausarchitekturkatalog der k. u. k. Monarchie, sagt Kumpfe. Das Schauspielhaus etwa sei dem in Graz zum Verwechseln ähnlich. Das Reichenberger Theater ist aber vor allem durch sein Innenleben interessant. Denn der Hauptvorhang wurde von niemand geringerem als Gustav Klimt entworfen. Derzeit wird die Geschichte des Theaters in einem Stück auf der Bühne verarbeitet, das eine Mischung aus Fakten und Fiktion ist. So verliebt sich Klimt in eine Reichenbergerin, die dann auch jene Frau ist, die der Maler auf dem Vorhang darstellt. „Eine schöne Geschichte“, sagt Petr Kumpfe, der übrigens selbst in dem Stück mitspielt. Er verkörpert einen deutschen Reiseführer.

Der Stadtrundgang mit Petr Kumpfe führt unter anderem weiter zur neuen Synagoge und dem ehemaligen Messegelände, auf dem der Stadtführer mit einigen anderen Begeisterten ein Technikmuseum eingerichtet hat. Die gesamte Reportage hören Sie in der Audioversion des Beitrags.

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