„Ein Gartenzwerg der europäischen Geschichte“ - Jiří Gruša demontiert den tschechischen Beneš-Mythos

Edvard Beneš

Er ist eine der zwiespältigsten Persönlichkeiten der jüngeren tschechischen Geschichte: Edvard Beneš, zweifacher tschechoslowakischer Staatspräsident, der nach dem Zweiten Weltkrieg per Dekret über zwei Millionen Deutsche aus der Tschechoslowakei vertreiben ließ. Vielen Tschechen gilt Beneš bis heute als Nationalheld. In einem aufsehenerregenden Essay („Beneš als Österreicher“) demontiert der Schriftsteller, frühere Diplomat und PEN-Club-Vorsitzende Jiří Gruša jetzt diesen Mythos. Beneš sei ein „Gartenzwerg der europäischen Geschichte“ und habe in den entscheidenden Momenten versagt – 1938, beim Münchener Abkommen, auf Druck Hitlers und 1948, als er den Kommunisten die Machtübernahme ermöglichte. Gruša lebt seit seiner Zwangsausbürgerung aus der Tschechoslowakei 1981 in Deutschland und war hier in den 1990er Jahren mehrere Jahre tschechischer Botschafter. Damals begann er, sich näher mit dem Thema Beneš zu beschäftigen, weil er in Deutschland ständig danach gefragt wurde.

Jiří Gruša mit seinem Buch über Edvard Beneš  (Foto: Packa,  Creative Commmons 3.0)
Herr Gruša, warum haben Sie sich entschieden, ein Buch über Edvard Beneš zu schreiben? Sie stechen damit, ich vermute einmal bewusst, in ein Wespennest in Tschechien…

„Naja, bewusst nicht, denn es fing ganz locker an: Als ich als Botschafter diente, wollte jeder etwas zu diesem Thema haben. Und dann habe ich die erste, zweite, dritte Rede geschrieben, dann diesen und jenen Vortrag. Und zusammen ist daraus ein Thema geworden, das ich eigentlich hasse. Aber die Geschichte wollte es so, dass ich mich endlich einmal damit beschäftigte – und zwar nicht auf eine professorale Art und Weise, sondern in Form eines Dialogs. Und das ist jetzt das Ergebnis.“

Also war die ursprüngliche Zielgruppe eine deutsche?

„Ja, natürlich. Ich wurde ständig gefragt: Was meinen Sie zu diesem Beneš und so weiter. Die ersten drei Reden waren auf Deutsch, und das war die Grundlage für das Buch. Und natürlich hat sich das dann erweitert.“

Sie beschreiben Beneš als ein ‚tschechisches Geheimnis’ – warum? Was macht diesen Mann so geheimnisvoll bis heute?

„Dass er überhaupt nicht geheimnisvoll ist. Ich wundere mich, warum diese Geheimnisse um ihn herum bestehen. Für mich war das Geheimnis: Wie kann man es schaffen, jemanden zu einem verdienstvollen Mann zu deklarieren, wenn er zweimal kapituliert hat? Das war für mich das Enigma: Wie es uns Tschechen passiert ist, diesen Salto historicale zu machen. Immer, wenn er alleine war und eine Entscheidung treffen sollte, hat Beneš eine falsche getroffen. Er hat sich nicht verteidigt damals (1938, Anm. d. Red.). Und dann 1948: Wir sind die einzige Nation, die sich einen Sozialismus mit dem Stimmzettel in der Hand sozusagen besorgt hatte. Und das verheimlichen wir bis heute. Wir sind natürlich das Opfer des Historischen, der Umstände, der Deutschen, der Russen und so weiter. Aber dass wir daran selber beteiligt waren, das ist das Thema dieses Buches, und in welcher Weise das geschah.“

Edvard Beneš unterzeichnet die Dekrete
Welche Rolle spielte denn Beneš dabei, wenn Sie sagen, die Tschechen haben sich den Sozialismus mit dem Stimmzettel geholt. Wie wichtig war hier die Persönlichkeit Beneš?

„Ohne seine Dekrete, ohne die Veränderung der Wählerschaft wäre das nicht möglich gewesen. Eigentlich haben diese Dekrete mehr als die Hälfte der Wählerschaft beseitigt oder ihrer alten Konnexionen sozusagen entledigt. Und in dem Sinne ist er schuld daran. Die demokratische Struktur des Landes ist dadurch im Sinne der Vendetta nach dem Zweiten Weltkrieg liquidiert worden. Und dadurch war der Sieg auch möglich. Denn plötzlich waren die Kommunisten eine starke Partei.“

Beneš-Statue  (Foto: EDU-ART Prag)
Wie nehmen Sie denn die Auseinandersetzung mit Edvard Beneš in Tschechien nach 1989 wahr? Er wird ja nicht nur verherrlicht, das Verhältnis scheint ja doch etwas zwiespältig zu sein. Erst 2005 wurde ihm ein Denkmal errichtet. Klar, die Beneš-Dekrete sind für die breite Bevölkerung nach wie vor unantastbar, aber man hat bis heute kein Gesetz unterzeichnet, das ihm Verdienste um den tschechischen Staat bescheinigt.

„Wie kann man sich verdient machen um einen Staat, wenn man zweimal kapituliert? Und das spüren auch diejenigen, die ihn bewundern. Das ist eine sehr gemischte Grundlage. Die Kommunisten haben ihm nie ein Denkmal gebaut – Stalin oder Gottwald haben sie ein Denkmal gebaut, aber Beneš nicht. Und dann kam die Wende und die Trennung der Tschechoslowakei. Und da war Beneš auch kein Held. Erst mit der Stabilisierung der tschechischen Staatlichkeit kam sozusagen die Sucht nach irgendeiner Persönlichkeit, auch symbolisch. Und da war er wieder da. Und deswegen war es so spät und auch ein bisschen provokativ.“

Jiří Gruša: „Beneš als Österreicher“
Man brauchte einen Helden...

„Da hat man aber nicht den richtigen gewählt. Wer zweimal kapituliert, den kann man nicht zum Helden machen. Naja, wir Tschechen schaffen das schon...“

Erklären Sie uns den Titel des Buches: Beneš als Österreicher...

„Das ist eine alte Tradition: Die Tschechen wollten dasselbe, was die Ungarn bekommen haben, so um 1870. Aber dann kam die Intervention von Andrassy und Bismarck. Und Franz Josef war nicht fähig, sich dagegen zu stemmen. Und diese schon vereinbarte trialistische Lösung hat man sozusagen beseitigt. Das war der wahre Grund für diese kochenden Nationalismen in der europäischen Mitte. Diese Nicht-Anerkennung der tschechischen Staatlichkeit, historisch und modern-politisch, war eigentlich der Grund für die späteren Nationalismen. Bis heute klagen die Ungarn über Trianon. Aber hätten sie den Trialismus nicht vernichtet, hätten sie Trianon nicht bekommen.“

Karel Kramář
Und Beneš – gab es zu ihm eine Alternative?

„Das ist eine kluge Frage. Alternativen gibt es immer – man muss sie nur wagen. Beneš war ja sozusagen der Hausmeister der Ersten Republik und war stark genug, um die anderen Kandidaten zu verhindern. Aber die Kritik an ihm war sehr stark, von Anfang an. Leute wie Kramář und andere waren gegen Beneš. Es war keineswegs so, dass er keine Konkurrenz hatte. Aber aufgrund der deutschen imperialen Politik blieb er im Sattel, weil in Krisenzeiten keine Zeit war, eine stabile Infrastruktur für die Tschechoslowakei auszudenken.“

Sie wollen mit Ihrem Buch eine Diskussion in Tschechien entfachen. Warum ist diese Debatte wichtig für das Land?

„Aus einem einfachen Grund: Wenn man endlich mal eine ruhige Zeit hat – das ist das erste Mal, dass wir über zwanzig Jahre einen funktionierenden Rechtsstaat haben –, dann ist es höchste Zeit, sich mit der Geschichte auch unideologisch zu beschäftigen. Und das Buch ist ein Versuch. Natürlich bekomme ich mittlerweile auch Beschimpfungen, aber immer stehen sie in einem Zusammenhang, der die Sache diskutabel macht. Und das ist eine gute Entwicklung.“

Wie empfinden Sie die bisherigen Reaktionen auf Ihr Buch in Tschechien?

Vertreibung der Deutschen  (Foto: Sudetendeutsches Archiv / Creative Commons 1.0 Generic)
„Ich bin eigentlich überrascht, denn ich hab mit negativen Reaktionen gerechnet. Aber ich habe eher positive oder nachdenkliche Reaktionen bekommen - nicht nur die Beschimpfungen, mit denen ich gerechnet habe. Es wird gelesen, es wird geschrieben, ich bekomme also viel Post zu diesem Thema. Ich bin fast unfähig, das alles zu beantworten.“

Jetzt soll Ihr Buch auch bald auf Deutsch erscheinen, noch in diesem Jahr. In Deutschland wird ja Beneš unweigerlich mit den Beneš-Dekreten assoziiert, auf deren Grundlage nach 1945 über zwei Millionen Deutsche aus der Tschechoslowakei vertrieben wurden. Wie wichtig sind diese Beneš-Dekrete oder die Diskussion darum heute noch für das deutsch-tschechische Verhältnis?

Edvard Beneš
„Wir brauchen sie nicht mehr. Sie sind aufgrund all dieser Deklarationen und dessen, was wir vor 15 Jahren erreicht haben, eigentlich obsolet. Aber die emotionale Argumentation, dass man sich auf das alte Unrecht beziehen kann, das ist ja die Grundlage für jeden Nationalismus. Und diejenigen, die so denken, ahnen, dass sie nach diesem Buch nicht dasselbe sagen werden können, wie es bis heute in diesem Land Sitte war. Ich verstehe sehr wohl, dass das denen nicht gefällt, die das immer wiederholen möchten. Und einige ahnen, dass es mit dem Bene, wie ich ihn nenne, nach diesem Buch nicht so einfach sein wird.“

Das Buch „Beneš jako Rakušan“ (Beneš als Österreicher) ist im Verlag Barrister &Principal in Brünn erschienen. Noch in diesem Jahr soll das Buch auch im deutschen Original erscheinen.