"Ein ziemlich normaler Prozess": Erik Tabery über drei Monate Regierungsbildung und politische Perspektiven für Tschechien
Nach drei Monaten zäher Verhandlungen hat Tschechien seit Anfang der Woche eine neue ODS-Minderheitsregierung. Erik Tabery, stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift "Respekt", zieht im Gespräch mit Radio Prag Bilanz über drei Monate Regierungsbildung, macht sich Gedanken über die politische Zukunft des Landes, die Rolle der Wähler und überlegt, welche Perspektiven die tschechischen Grünen sowie die Christdemokraten bei Neuwahlen hätten. Für seine Kommentare zum politischen Geschehen hat Erik Tabery vor drei Jahren den Wachtel-Journalistenpreis für Autoren unter 33 Jahren erhalten. Vor wenigen Monaten ist sein Buch "Wir regieren, nicht stören" erschienen, das die Zeit des so genannten Oppositionsvertrags (1998-2002) in Tschechien beleuchtet.
Herr Tabery, nach drei Monate dauernden Regierungsverhandlungen ist seit Anfang dieser Woche das neue Kabinett von Mirek Topolanek vereidigt, Tschechien hat endlich eine neue Regierung. Eine Notlösung oder letztlich die einzig sinnvolle Variante, was meinen Sie?
Eigentlich beides. Es war die einzig mögliche Variante zum gegenwärtigen Zeitpunkt, denn drei Monate Verhandlungen haben gezeigt, dass es keine Regierung gibt, die sich auf eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus stützen kann. Deshalb musste eine Übergangslösung gefunden werden, und das ODS-Minderheitskabinett scheint die beste Variante zu sein. Ideal wäre allerdings, wenn es nur bis Mitte nächsten Jahres an der Macht wäre und dann Neuwahlen stattfänden.
Bevor es zu einer ODS-Minderheitsregierung kam, waren drei andere Varianten im Spiel. Mindestens eine davon war sehr überraschend: Der Parteichef der Christdemokraten, Miroslav Kalousek wollte sich auf eine gemeinsame Regierung mit den Sozialdemokraten von Jiri Paroubek einlassen, die von den Kommunisten toleriert wird. Warum ist Kalousek entgegen jeglicher Wahlversprechen der Christdemokraten von einem der wichtigsten Vorsätze seiner Partei abgewichen, nämlich unter keinen Umständen mit den Kommunisten zusammen zu arbeiten? Er selbst begründete das mit der Angst vor einer Änderung des Wahlsystems zu Ungunsten der kleineren Parteien. Halten Sie diese Angst für berechtigt?
Teilweise schon. Die Wahlen sind insbesondere für die Christdemokraten nicht gut ausgefallen, und das hat ihre Angst verstärkt. Das hat eine gewisse Logik. Auf der anderen Seite war die Befürchtung, dass die Sozialdemokraten und die ODS sich auf eine Vernichtung der kleinen Parteien einigen, haltlos. Denn die ODS hat immer gesagt, dass sie das Wahlsystem nicht noch mehr zu Ungunsten der kleinen Parteien ändern wird. Aber selbst wenn die Christdemokraten tatsächlich bedroht wären, darf man als Politiker nicht plötzlich Grundsätze verletzten, die man vor den Wahlen Millionen mal wiederholt hat.
Welche Zukunft haben Ihrer Meinung nach die tschechischen Christdemokraten?
Die Christdemokraten stehen momentan vor nahezu existenziellen Fragen: ihre Wähler wenden sich von ihnen ab und die Partei hat nichts, womit sie sie wieder gewinnen kann. Die Christdemokraten müssen andere Themen finden. Dazu kommt, dass ihr Vorsitzender Kalousek wegen der geplanten Zusammenarbeit mit den Kommunisten abberufen wurde. Eigentlich war das ein Hoffnungsträger für die Partei, der eine neue Richtung hätte vorgeben sollen. Die Christdemokraten sind heute quasi ohne Führungselite. Dazu kommt, dass sie es in einem atheistischen Land wie Tschechien ohnehin schwer haben. Sie stehen jetzt vor der grundlegenden Frage, welchen Sinn sie überhaupt haben und welche Ziele sie verfolgen.
Über die tschechische politische Landschaft wird häufig gesagt, dass sie der in westlichen Ländern relativ ähnlich ist - im Unterschied etwa zur politischen Szene in Polen oder der Slowakei, die wesentlich instabiler sind. Der Politologe Jiri Pehe hat kürzlich geschrieben, dass in Tschechien zwar drei Monate eine relativ chaotische Situation geherrscht hat, diese Entwicklung aber letztlich die eines ganz normalen demokratischen Staates ist. Sehen Sie das auch so?
Absolut. Es ist sogar so, dass wenn das Wahlsystem nicht vor einigen Jahren von den großen Parteien geändert worden wäre, wir jetzt ohne Probleme eine ganz normale Mitte-Rechts-Regierung hätten haben können. Dennoch habe ich die Entwicklung der letzten drei Monate mit einer gewissen Hoffnung verfolgt: Zwar war die lange Regierungsbildung für die Wähler ermüdend, aber sie hat Parteien geholfen, sich klarer voneinander abzuheben. Ich sehe darin einen ziemlich normalen Prozess, so wie man ihn auch in westlichen Ländern beobachten kann. Überhaupt meine ich, dass jeder Tag mehr, den wir in Freiheit leben, diesen Staat im positiven Sinne stärkt. Ich denke, dass Tschechien auf einem sehr guten Weg ist. Man darf ja auch nicht vergessen, dass erst 16 Jahre seit dem Ende des Kommunismus vergangen sind und insofern ist das eine ziemliche Erfolgsgeschichte, wenn Sie sehen, wie sich die Gesellschaft hier verändert.Viel wird jetzt über vorzeitige Neuwahlen gesprochen. Wie glauben Sie, würden sich die tschechischen Bürger verhalten? Viele Politiker haben ihre Ablehnung von Neuwahlen ja damit begründet, dass die Bürger einfach schon politikmüde sind und viele gar nicht mehr zu den Urnen gehen würden.
Im Moment sehen die meisten Bürger keinen wirklichen Grund für Neuwahlen. Es steht daher tatsächlich zu befürchten, dass manche sich nicht daran beteiligen würden. Auf der anderen Seite fürchte ich, dass wenn es jetzt keine Neuwahlen gibt, sondern stattdessen eine Politik mühsamer Entscheidungen, möglicherweise verbunden mit Machtambitionen, dass dann die Frustration der Wähler wächst und am Ende überhaupt niemand mehr wählen geht.
Glauben Sie, dass bei Neuwahlen die Grünen, die jetzt zum ersten Mal den Sprung ins Abgeordnetenhaus geschafft haben, erneut mehr als fünf Prozent der Stimmen bekommen würden?
Das ist die große Frage. Tatsache ist, dass die Grünen als einzige Partei nach den Wahlen keinen großen Fehler gemacht haben. Sie haben sich auf ein Bündnis mit der ODS und den Christdemokraten eingelassen, haben dort viele ihrer Prioritäten eingebracht, haben immer die Zusammenarbeit mit den Kommunisten abgelehnt und somit nicht ihre Wahlversprechen gebrochen, Martin Bursik ist nach wie vor ein glaubwürdiger Parteichef, die Partei hat sich nicht zerstritten, wie manch einer vorhergesagt hatte. Eigentlich sollte sie Chancen haben, wieder gewählt zu werden. Die Frage ist, ob sich die Gesellschaft nicht noch weiter polarisiert und sich eher zwischen den beiden großen Parteien entscheidet. Aber ich denke, die Grünen sind von dieser Gefahr weniger bedroht als etwa die Christdemokraten.Hat die neue ODS-Minderheitsregierung eine Chance, die Vertrauensfrage im Abgeordnetenhaus zu überstehen?
Diese Chance ist sehr klein. Es könnte zwar überraschend passieren, dass etwa die Kommunisten die ODS unterstützen - aus dem Grund, dass die ODS Neuwahlen verspricht. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint mir das unwahrscheinlich.
Und was passiert, wenn die ODS mit der Vertrauensfrage scheitert?
Dann erleben wir weitere drei Monate langer Verhandlungen. Die Frage wird dann sein, wen der Präsident mit der Regierungsbildung beauftragt - Jiri Paroubek oder Mirek Topolanek. Und ob Jiri Paroubek tatsächlich in der Lage ist, für seine Regierung eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus zu finden, wie er von sich behauptet.