Einander besser zuhören: Alexandra von Poschinger und ihr Buch „Zusammenwachsen“
Am 1. November 2023 war es genau 30 Jahre her, dass der Vertrag von Maastricht in Kraft trat. Er ist die Grundlage der Europäischen Union, ihrer gemeinsamen Innen-, Außen und Sicherheitspolitik. Dieses Jubiläum hat die Journalistin und Publizistin Alexandra von Poschinger zum Anlass genommen, ihr Buch „Zusammenwachsen. Starke Stimmen für Europa“ zu veröffentlichen. Es enthält Portraits ganz unterschiedlicher Menschen aus der Dreiländerregion Deutschland-Österreich-Tschechien, deren Arbeits- und Lebenskonzepte beispielhaft für die europäische Realität stehen.
Eine „Region, die europäischer kaum sein könnte“. So beschreibt Alexandra von Poschinger das Gebiet des Böhmerwaldes und Bayerischen Waldes, in dem Deutschland, Österreich und Tschechien aneinandergrenzen. Als gebürtige Passauerin habe es für sie nahegelegen, sich für ihr neuestes Buch „Zusammenwachsen. Starke Stimmen für Europa“ in ihrer heimatlichen Umgebung umzuschauen, betont die Autorin im Gespräch mit Radio Prag International:
„Ich bin an der Grenze zu Österreich und auch in der Nähe zu Tschechien aufgewachsen und fand Grenzen schon immer spannend. In meiner Jugend war natürlich noch der Eiserne Vorhang präsent. Er öffnete sich 1989, als ich 15 war. Ich finde es interessant, in Randregionen eines Landes Vergleiche mit den Nachbarn anzustellen. Das habe ich schon als Schülerin mit den Österreichern getan, die in Passau mit mir zur Schule gingen, und später dann auch mit den Menschen in Tschechien. Ich habe sie sehr neugierig und interessiert beobachtet: Was machen sie, was machen wir, was macht der- oder diejenige vielleicht besser, und was können wir voneinander lernen.“
Inzwischen beobachtet Poschinger nicht mehr nur, sondern kommt als Journalistin mit vielen Menschen auch ins Gespräch. Und um zu berichten, was die Bewohner der Dreiländerregion also machen und wie sich das Leben mitten in Europa gestaltet, hat sie für ihr neues Buch 25 Portraits verfasst – über Männer und Frauen aus Deutschland, Österreich und Tschechien mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten. In der Einleitung schreibt die Autorin, die „Seelen Europas“ seien eben die Menschen, die auf dem Kontinent leben. Poschinger erläutert:
„Seelen Europas“ sind eben die Menschen, die auf dem Kontinent leben.
„Ich glaube, dass Europa nur über die Menschen funktionieren kann. Europa ist keine Konstruktion, die von Brüssel aus über die Länder gestreut wird. Europa ist auch nicht nur ein Abgeordnetenbüro in Straßburg und schon gar nicht irgendeine Verordnung, über die wir immer so gerne schimpfen. Sondern Europa müssen die Menschen sein. Wenn wir uns mehr mit ihnen, ihren Lebensbildern und ihren Geschichten befassen, ihren Erlebnissen, Erfahrungen, Wünschen und Sehnsüchten – kurzum, wenn wir die Menschen viel besser verstehen, dann können wir in Frieden und in Einheit in Europa leben.“
Eine, die ein Europa der Einheit lebt und die im Buch portraitiert wird, ist Lenka Ovčáčková. Hauptberuflich beschäftigt sie sich an der Prager Karlsuniversität mit Wissenschaftsgeschichte. Daneben dreht sie Dokumentarfilme auf Tschechisch und Deutsch, in denen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus der Dreiländerregion zu Wort kommen. Ovčáčkovás Privatleben spielt sich zwischen Prag und Wien ab. Sie sagt:
„Für mich ist Europa ein wunderbarer, breiter Rahmen, in dem man sich bewegen kann. Ich versuche also, nicht begrenzt zu leben. Wenn ich über Europa nachdenke, fällt mir immer ein Konzept von einem Professor ein, der an der Deutschen Universität Prag tätig war. Christian von Ehrenfels war der Vater der Gestalttheorie. Das heißt, die Ganzheit wird nicht dadurch gebildet, dass man die einzelnen Teile summiert. Sondern dabei gibt es etwas mehr. Und dieses Etwas mehr ist für mich das Gefühl von Europa.“
Die Union trage eine große Pluralität in sich, schwärmt die Wissenschaftlerin. Und ihre vielen „Einzigartigkeiten“, wie Ovčáčková es nennt, würden sich zu einer „wunderbaren Ganzheit“ verbinden. Allerdings könne das nötige Verständnis der Menschen füreinander nicht oberflächlich entstehen, sondern müsse tiefer gehen, so ihre Mahnung.
Europa ist mehr als die Summe der einzelnen Länder
Lenka Ovčáčková ist eine der „starken Stimmen für Europa“, die Alexandra von Poschinger für ihr Buch ausgewählt hat. Die meisten der Protagonistinnen und Protagonisten in ihrem Buch sind allerdings Zufallsbekanntschaften, die auf einer ungewöhnlichen Recherchereise entstanden sind. Die unerwarteten Grenzschließungen im Corona-Lockdown hätten bei ihr ein beklemmendes Gefühl ausgelöst, berichtet die Autorin. Also sei sie danach mit einer Freundin zwei Wochen lang mit dem Auto in der Dreiländerregion unterwegs gewesen, ohne aber ein konkretes Ziel zu haben. Vielmehr habe sie in den spontanen Gesprächen mit den Menschen, die sie auf dieser Reise kennengelernt hat, den Zustand von Europa erkennen wollen. Und weiter Poschinger:
„Vor allem, wenn ich mich in Tschechien bewegt habe, traf ich immer wieder auf Menschen, in denen die Geschichte noch sehr tief steckte: Krieg, Vertreibung, Flucht, die Heimat verlassen zu müssen oder von einem totalitären Regime übernommen zu werden. Das hat mich sehr berührt, denn ich wurde von all diesen Erlebnissen zum Glück verschont und meine Familie auch. Aber ich habe gelernt, dass Menschen auch Generationen später noch sehr unter solchen politischen Regimen leiden.“
Die Nachwirkungen der Geschichte sind auch das zentrale Thema der Dokumentarfilme von Lenka Ovčáčková. Entsprechend ist ihr Kapitel im Buch mit „Das Gedächtnis des Grenzlandes“ überschrieben...
„Ich baue meine Filme immer auf geschichtlichen Ereignissen auf. Und diese waren natürlich nicht immer positiv. Ich spreche dabei über den Zweiten Weltkrieg und die Vertreibung danach. Das sind sehr negative historische Einschnitte. Diese Grundlage versuche ich dann in einem ganzheitlichen Sinne zu betrachten. Deswegen sind für mich Interviewpartner wichtig, die diese Zeit erlebt haben – jeder natürlich auf seine subjektive Art. Es ist wichtig, mehrere solcher Menschen zusammenzubringen.“
Die Geschichte der Dreiländerregion Deutschland-Österreich-Tschechien könne dabei als Fallbeispiel stehen, wie man auch mit anderen Grenzen in Europa umgehen sollte, so Ovčáčková weiter:
„Wenn man nämlich versucht zu verstehen, was zu den Konflikten geführt hat und wie man eine Situation auf eine andere Weise lösen kann, als wieder nur mit Konflikten. Wie kann man also diese Geschichte harmonisieren und darüber hinaus auch die jetzige Zeit? Dabei meine ich keine naive Harmonie, so dass alles schön sein muss. Sondern dass man eine Basis hat, auf der man sich frei und respektvoll bewegen kann.“
In Abgeschiedenheit lässt sich tiefer nachdenken
Es ist vor allem eine räumliche Freiheit, die die meisten der Portraitierten im Buch „Zusammenwachsen“ für ihr Leben, ihre Arbeit und auch die Interaktion mit anderen nutzen. Sei es die Bildhauerin und Künstlerin Gabriele Berger, die im österreichischen Mühlviertel einst einen alten Steinbruch gekauft und zu ihrem Wohnort gemacht hat. Oder der Verwaltungsleiter Bernhard Hein, der im Böhmerwald Langstreckenlauf trainiert. Oder aber die Journalistin Lída Rakušanová, die nach jahrzehntelangem erzwungenem Exil in München inzwischen frei zwischen Prag und der bayerischen Provinz pendeln kann.
Dass viele ihrer Protagonistinnen und Protagonisten eher abgeschieden leben, sei vor allem der ländlich geprägten Struktur im Dreiländereck geschuldet, sagt Poschinger. Trotzdem könnten gerade sie für ein Zusammenwachsen in Europa stehen:
„Ich glaube, dass dieses ländliche Leben nahe an den Grenzen eine tiefere Verbindung zur Erde schafft. Man erdet sich, indem man auf dem Land lebt. Und nimmt dann vielleicht manche Dinge wahr, die in den Städten eher oberflächlich gehandhabt werden, weil zu viel auf einen einwirkt. Auf dem Land kann man tiefer darüber nachdenken.“
Ganz ähnlich sieht es Lenka Ovčáčková, die sich – in Bezug auf ihre Arbeit als Dokumentarfilmerin – im Buch selbst als „absolute Einzelgängerin“ bezeichnet:
Eine weitere Besonderheit in dem Buch, das „starke Stimmen für Europa“ zusammenträgt, scheint der ehemalige Unternehmer Franz Xaver Hirtreiter zu sein. Er wird zitiert mit den Worten, dass es derzeit nicht gelinge, eine starke Union zu formen, und dass er den Glauben an Europa verloren habe. Dazu Autorin Poschinger:
„Dieser Kontrast ist natürlich von mir gewollt. Ich habe keine Menschen ausgeschlossen, die Europa nicht so toll finden. Es ist gerade das Spannende, Menschen zu portraitieren, die Verbesserungsvorschläge in Europa machen, die schlechte Erfahrungen gemacht haben und Europa-müde sind. Dieser Unternehmer war als junger Mann in dieser Dreiländerregion sehr erfolgreich und hat viel Geld verdient. Im Laufe der Jahrzehnte wurde er aber immer mehr enttäuscht von der EU und ihren Reglements.“
Inzwischen, so ist es im Buch nachzulesen, engagiert sich Hirtreiter in Afrika, um die dortigen Lebensbedingungen zu verbessern und den Menschen eine Bleibeperspektive zu schaffen. Sein Kapitel trägt den Titel „Vom Cowboy zum Sinnstifter“.
Auch Kritik an der EU steht für ein "Zusammenwachsen"
Es sei gerade die Pluralität der Portraitierten, die ihr an dem Buch „Zusammenwachsen“ so gefalle, urteilt Lenka Ovčáčková. Ein weiterer Anreiz für potentielle Leser dürfte das Vorwort sein, für das Autorin Poschinger den aus China stammenden Künstler Ai Weiwei gewinnen konnte. Er gibt sich in seinem Text allerdings nicht nur begeistert-optimistisch von Europa. Vielmehr stellt er die Frage, ob die einzelnen Länder angesichts ihrer Unterschiedlichkeit wirklich als Gemeinschaft bestehen können. Alexandra von Poschinger glaubt an dieses Unterfangen. Wichtig sei allerdings, die regionalen Identitäten nicht aufzugeben und trotzdem europäisch zu denken:
Das Spannende ist ja die Unterschiedlichkeit der Menschen aus den verschiedenen Ländern. Da sollte jeder seine Eigenständigkeit behalten und auch eigenständig ticken.
„Das ist die einzige Chance. Wir werden nicht alle Länder gleichmachen können. Das Spannende ist ja die Unterschiedlichkeit der Menschen aus den verschiedenen Ländern. Da sollte jeder seine Eigenständigkeit behalten und auch eigenständig ticken. Das finde ich dringend erforderlich. Gleichzeitig können wir aber auf einer höheren Ebene alle Europäer sein, uns noch besser verbinden – und einander noch besser zuhören. Ich glaube, es geht ganz oft auch ums Zuhören der anderen Geschichten. Das sollten wir wieder mehr lernen, dann könnte noch viel mehr Europa gelingen.“
Das Buch „Zusammenwachsen. Starke Stimmen für Europa“ von Alexandra von Poschinger ist im Knesebeck-Verlag erschienen. Es hat 222 Seiten und ist mit Fotografien von Florian Eichinger illustriert.