„Er hat immer zugehört.“ Vor 25 Jahren wurde Václav Havel Präsident
Vor 25 Jahren, am 29. Dezember 1989, wurde der Dichter, Dramatiker und Dissident Václav Havel zum Präsidenten der Tschechoslowakei gewählt. Es war der Höhepunkt der Samtenen Revolution, die nur wenige Wochen zuvor mit einer Studentendemonstration in der Prager Innenstadt begonnen hatte. Drei Jahre später, am 1. Januar 1993, kam es zur Teilung der Tschechoslowakei, danach wurde Havel noch zweimal tschechischer Präsident. Erst im Februar 2003 endete seine Amtszeit. Martin Krafl, einer von Havels engsten Mitarbeitern in den letzten sieben Jahren auf der Burg, erinnert sich.
„Erst in den nächsten Tagen war ich beim Streik in der Hochschule dabei, und natürlich bei den Demonstrationen auf dem Wenzelsplatz. Die Erinnerungen an die damaligen Ereignisse sind für mich immer noch mit starken Emotionen verbunden. Ich erinnere mich etwa an meine Eltern, die jeden Tag mit mir telefonieren wollten. Damals gab es kein Handy, und wir hatten zuhause nicht einmal ein Telefon. Meine Eltern waren geschieden und mussten zum Telefonieren zu einer Nachbarin gehen, wo sie sich wieder getroffen haben. Ich musste sie dort immer zu einer bestimmten Uhrzeit anrufen, um ihnen zu sagen, ob es mir gut geht. Dazu musste ich in Prag bei der Hauptpost jedes Mal ein Ferngespräch bestellen.“
Die Hauptpost lag genau wie heute in der Jindřišská-Straße, gleich um die Ecke vom Wenzelsplatz, wo täglich demonstriert wurde. Nicht nur Martin Krafls Eltern waren besorgt, auch er selbst verspürte Angst:„Ich glaube, ich habe erst in den Wochen danach verstanden, was für eine Gelegenheit das ist – nicht nur für uns junge Menschen, sondern für das ganze Volk“, so Krafl.
Bei den Demonstrationen hörte Krafl zum ersten Mal den Namen Václav Havel. Zuhause war Havel nie ein Thema gewesen. Krafls Eltern waren keine Freunde des kommunistischen Regimes, doch sie wollten es ihrem Sohn ersparen, sich in der Schule ein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen, anders reden zu müssen, als daheim. Nun, im Herbst 1989, konnte man auf vielen Prager Hauswänden plötzlich die Parole „Havel na Hrad“ lesen – Havel auf die Burg. Nur wenige Wochen später, am 29. Dezember, wurde Václav Havel tatsächlich zum letzten Präsidenten der Tschechoslowakei gewählt.
Sechs Jahre später, Anfang 1996, bekam Martin Krafl einen Anruf von der Prager Burg, dem Sitz des Präsidenten. Krafl war damals Fernsehnachrichtensprecher und dachte zunächst, er hätte in irgendeinem Bericht einen Fehler gemacht. Mit dem Anruf aber kam ein Jobangebot: Havel suchte einen jungen Mitarbeiter mit Medienerfahrung, der Deutsch spricht, Krafl selbst hielt sich für zu jung und wollte ablehnen:
„Mein damaliger Chef beim Fernsehen aber sagte: Wenn du nein sagst und nicht auf die Burg gehst, dann bist du gekündigt. Ich dachte, das ist ein Witz, aber er hat mir wirklich gekündigt, damit ich gezwungen war, das Angebot anzunehmen. Er hat es gut mir gemeint, aber das sehe ich erst heute. Ich bin sehr froh, dass ich damals ja gesagt habe.“
Im Leben Martin Krafls begann nun eine neue Phase – doch auch für Václav Havel war es eine Zeit der Veränderungen:„Als ich auf die Burg kam, starb gerade Havels erste Ehefrau. Er selbst hat später mehrmals gesagt, dass damit ein neuer Abschnitt in seinem Leben begann. Er hat seine zweite Frau Dagmar geheiratet, und zu dieser Zeit haben sich auch sein Freundeskreis und der Kreis seiner Mitarbeiter verändert. Ich gehörte also zu dieser neuen Phase, der vorletzten im Leben von Václav Havel. Die letzte Phase war dann die nach dem Ende seiner Amtszeit bis zu seinem Tod.“
Krafls Bedenken, er sei für den Job eigentlich zu jung und unerfahren, waren bald verflogen:
„Für mich war es sehr sympathisch, wie Havel mit den jungen Menschen umgegangen ist. Ich habe mich immer gefragt, wie jemand ohne Erfahrungen und ohne politisches Engagement dem Präsidenten helfen kann. Havel aber hatte viele junge Mitarbeiter und er hat ihnen immer zugehört. Er wollte immer ihre Meinungen hören.“Während der Zeit der kommunistischen Diktatur hatte der damalige Dissident Václav Havel mehrere Jahre im Gefängnis verbracht. Später als Präsident galt er als Brückenbauer, der frei war von Rachsucht. Zugehört hat Havel auch den Kommunisten, erinnert sich Krafl:
„Die Kommunisten haben bei demokratischen Wahlen nicht alle Stimmen verloren. Das Volk hat sogar gewünscht, dass sie weiterhin im Parlament vertreten sind. Für Havel war das sicher eine besondere Situation, doch er hat die demokratischen Prinzipien verfolgt, die wir in der Tschechoslowakei lange Zeit nicht hatten.“Dieser vorsichtige und distanzierte Umgang mit der Macht erinnerte Krafl bisweilen an Havels Theatervergangenheit:
„Wenn ich zurückschaue, habe ich manchmal das Gefühl, dass das ein Teil seines absurden Lebens und Theaters war. Das absurde Theater passt sehr gut zu ihm. Ich glaube, wenn man seine Stücke ansieht, versteht man, was das bedeutet. Wenn ich ihn insgeheim beobachtet habe, dann dachte ich manchmal: Vielleicht nimmt er das alles auch gar nicht so ernst. Vielleicht amüsiert ihn ja dieses absurde Theater der Realität.“
Bis zum Ende von Havels Amtszeit im Jahr 2003 blieb Krafl auf der Prager Burg, in den letzten Jahren als Direktor der Presseabteilung. Im Dezember 2011 schockierte ihn – wie Millionen Menschen auf der ganzen Welt – die Nachricht von Havels Tod. Dagmar Havlová fragte Krafl damals, ob er bei der privaten Beisetzung im Freundes- und Familienkreis dabei sein und dort ein paar Worte sprechen wolle:„Es gab 15 Menschen, die am Sarg etwas sagen durften. Ich habe mich an den Anfang meiner Zeit mit Havel erinnert. Die Frage nun war für mich genauso absurd wie damals die Frage, ob ich für Václav Havel arbeiten will. Ich dachte: Wie komme ich zu diesen 14 anderen? Ich war ja nur sieben Jahre dabei! Aber es war für mich eine so große Ehre, dass ich natürlich ja gesagt habe. Für mich war das ein unglaublicher Abschluss – genauso wie der unglaubliche Anfang meiner Zeit mit Václav Havel.“
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Martin Krafl (43) war von 1996 bis 2003 Mitarbeiter des tschechischen Präsidenten Václav Havel, u.a. als Direktor der Presseabteilung. Derzeit ist er Direktor des Tschechischen Zentrums in Wien.