Erinnerungen an die Grenzöffnung – Die Lehrerin
Vor 30 Jahren wurden die Grenzübergänge zwischen Bayern und Böhmen für den regulären Verkehr geöffnet. Für viele Menschen auf tschechischer und deutscher Seite war es ein prägendes Ereignis, darunter auch für die Lehrerin Ingrid Leser. Sie gehörte zu den ersten Organisatorinnen des tschechisch-deutschen Schüleraustauschs in Nordostbayern.
Ingrid Leser ist in Bärnau, einer Kleinstadt in der Oberpfalz direkt an der tschechischen Grenze aufgewachsen. Als Kind war ihre Einstellung zum Nachbarn hinter dem Eisernen Vorgang vor allem von Angst geprägt.
„Wenn wir Pilze suchen gegangen sind, sagten die Eltern: Passt auf, die schießen. So hat man als Kind ein bisschen ein Feindbild von den Tschechen bekommen. Was mich dann später zum Nachdenken gebracht hat, war meine Zeit in England. Da fragte man mich, ob ich Tschechisch spräche – wieso sollte ich Tschechisch sprechen, dachte ich mir damals. Auf die Idee wäre ich nie gekommen. Das waren erste Anhaltspunkte, die mich zum Überlegen brachten. Da war ich schon über 20, da kam der Verstand, und man hat etwas mehr darüber nachgedacht.“
Ingrid Leser wurde Lehrerin und unterrichtete an der Hauptschule der benachbarten Kreisstadt Tirschenreuth. Als 1990 die Grenze geöffnet wurde, war die Neugier groß.
„Meine Mutter stammt von drüben. Sie ist Deutschböhmin, genauer Egerländerin, und sie hatte eine Freundin, die noch in Plan lebte. Sie hatten sich 40 Jahre nicht gesehen. Es gab dann schon dieses Fieber: Wenn in Mähring am 1. Mai die Grenze aufgemacht wird, dann treffen wir uns dort. Von Bärnau bis Mähring ist es ja nicht weit. Und sie haben sich wirklich getroffen. Das war ein Hallo. Und die Schwiegertochter der Freundin meiner Mutter war Lehrerin an einer Volkssprachenschule in Marienbad.“
Genau wie Ingrid Leser wollte auch sie Kontakt zu einer Schule im Nachbarland aufbauen. Gleich am Tag der Probegrenzöffnung in Mähring, am 1. Mai 1990, fuhren die beiden Frauen zusammen los, um bei einer Schule vorzusprechen.
Nach ersten Annäherungen per Brief trafen sich die Schüler aus der Tschechoslowakei und Deutschland zur Weihnachtsfeier 1990 zum ersten Mal. Es folgten gemeinsamer Unterricht, Ausflüge und Sportfeste.
„Weil ich selbst öfters und längere Zeit im Ausland war, war es mir wichtig, dass man sich kennenlernt. Die Kultur, das Leben des anderen, um die Vorurteile abzubauen. Und so dachte ich, es ist ganz wichtig, dass man in der Schule anfängt, bei der Jugend, dass sie aufeinander zugeht. Die Erwachsenen wussten so viel von der Geschichte. Aber Jugendliche sind Jugendliche. Sie tanzen zusammen, singen zusammen, gehen miteinander weg. Das ist etwas ganz anderes.“
Trotzdem war es oft nicht einfach, erinnert sich Ingrid Leser. Noch nach der Jahrtausendwende hatten viele Schüler Vorbehalte, wenn es um die Nachbarn im Osten ging.
„In der Schule nahmen wir am Wettbewerb ‚Unsere östlichen Nachbarn‘ teil. Wir gewannen den Preis: 1000 Euro. Und was machen wir mit den 1000 Euro? Die Schüler meinten: Wir fahren nach Paris. Darauf ich: Was wollt ihr in Paris? Der Wettbewerb hieß doch ‚Unsere östlichen Nachbarn‘. Aber schließlich konnte ich die Schüler überzeugen und wir fuhren nach Prag.“
Zu ihrer eigenen Überraschung waren die Schüler begeistert von der Stadt.
„Von den schönen Häusern, vom Essen. Einem Schüler fiel sogar auf, dass keine Kaugummiflecken auf der Straße waren. Und die Menschen seien nett, freundlich, alle würden einem helfen. Also super, dachte ich, es ist gelungen, die jungen Leute zu überzeugen, wir haben unseren Auftrag erfüllt. Als wir nach Hause fuhren, fasste ich den Tag nochmals zusammen, was wir erlebt und gesehen hatten in Prag und sagte, ich hoffe, ihr habt eure Vorurteile abgebaut.“
Die Reaktion fiel allerdings ganz anders aus als erwartet. Ingrid Leser erinnert sich an die Worte ihrer Schüler:
„‘Prag ist dreckig, in Prag kannst du nichts essen, in Prag sind blöde Leute.‘ – Ich fragte nach, sie hätten mir doch vorher erzählt, wie schön es in Prag sei. Darauf antworteten die Schüler, das könnten sie nicht erzählen, das würde ihnen niemand glauben. Das heißt, die Schüler hatten wirklich etwas Positives erlebt, aber sie haben sich nicht getraut, ihre eigene Sicht gegen die damals herrschende Meinung über Tschechien zu stellen.“
Heute sieht es anders aus, glaubt Ingrid Leser. Die Lehrerin ist inzwischen pensioniert. Dem Austausch zwischen Deutschen und Tschechen ist sie treu geblieben. Für die Volkshochschule Tirschenreuth leitet sie regelmäßig Exkursionen ins Nachbarland.
Die Zeitzeugenaufnahmen stammen aus dem Ausstellungsprojekt „Wieder Nachbarn – 30 Jahre Grenzöffnung“ der Museumsfachstelle der Ikom Tirschenreuth. Wir danken Barbara Habel für die freundliche Genehmigung. Die komplette Ausstellung wird wegen Corona erst im nächsten Jahr gezeigt, ist aber bereits jetzt online abzurufen unter:
https://www.bbkult.net/projekte/kulturbruecke/30-jahre-grenzoeffnung/