Erleichterungen oder Diskriminierung? Diskussion um Einführung der Briefwahl für Auslandstschechen

Die Auslandswahl

Würde sie für Erleichterungen oder für Diskriminierung sorgen? Die gerade abgehaltene Präsidentschaftswahl hat die Diskussion über eine Einführung der Briefwahl in Tschechien erneut ins Rollen gebracht. Schon seit einem Jahr liegt ein Gesetzesvorschlag im Abgeordnetenhaus. Demzufolge soll zumindest den Tschechen im Ausland ermöglicht werden, bei den wichtigsten Wahlen per Post abzustimmen. Bisher müssen sie dazu nämlich persönlich in den Botschaften oder Konsulaten erscheinen, und das bedeutet in manchen Fällen eine Anreise von mehreren Hundert, wenn nicht Tausenden Kilometern. Welche Argumente werden hierzulande in der Diskussion um eine mögliche Briefwahl vorgebracht?

Petr Fiala | Foto: Regierungsamt der Tschechischen Republik

Im Januar wurde bei der Präsidentschaftswahl in Tschechien eine Rekord-Wahlbeteiligung von 70,3 Prozent verzeichnet. Im Ausland haben sogar 80 Prozent der wahlberechtigten Tschechen abgestimmt. Begleitet wurde die Berichterstattung darüber von Geschichten, denen zufolge etwa in den USA lebende Wähler nach Washington einfliegen mussten, um ihre Stimme in der tschechischen Botschaft abzugeben. Eine Briefwahl sieht die hiesige Gesetzgebung nämlich bisher nicht vor.

Vít Rakušan | Foto: Regierungsamt der Tschechischen Republik

Seit längerem wird darüber diskutiert, dies zu ändern. Und auch die aktuelle Regierung von Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) hat die Briefwahl in ihre Programmerklärung aufgenommen. Der heutige Innenminister, Vít Rakušan (Bürgermeisterpartei Stan), versprach während der Koalitionsverhandlungen 2021 in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks:

„Wir gehen mit einem Wahlgesetz in die Regierung. In dieser Legislatur werden wir mit Sicherheit darüber debattieren, was zu tun ist, damit die Briefwahl in der tschechischen Gesetzgebung verankert wird.“

Tomáš Czernin | Foto: Martin Vlček,  Senat des Parlaments der Tschechischen Republik,  CC BY 3.0

Ein Gesetzesentwurf liegt seit Januar vergangenen Jahres im Abgeordnetenhaus. Er kommt allerdings nicht aus dem Kabinett, sondern aus dem Senat. Einer der Verfasser ist Tomáš Czernin, der die Regierungspartei Top 09 in der oberen Parlamentskammer vertritt:

„Natürlich kann schon jetzt in den Vertretungen Tschechiens gewählt werden. Aber wer etwa in Vancouver lebt, muss fünf Wochen vor den Wahlen und dann erneut am Wahltag nach Ottawa oder Toronto reisen. Im Falle der Präsidentschaftswahlen steht die Reise nach zwei Wochen noch einmal an. Das sind unglaubliche Strapazen und kostet viel Geld und Zeit. Gegenüber diesen Leuten haben wir noch große Schulden.“

Tschechien sei eines der letzten EU-Länder, in denen noch nicht per Post gewählt werden kann, fügt Czernin an. Es sind genau sechs Staaten, auf die das zutrifft: Dänemark, Kroatien, Bulgarien, Griechenland, Zypern und eben Tschechien. In weiteren sieben EU-Ländern – darunter Deutschland – ist die Briefwahl sogar im Aus- und im Inland möglich.

Foto: Radio Prague International

Die Senatsinitiative plant die „Korrespondenzwahl“, wie man den hiesigen Begriff korespondenční volba übersetzen würde, aber nur für Menschen mit tschechischer Staatsbürgerschaft, die dauerhaft im Ausland leben oder sich dort für eine Zeit aufhalten. Per Brief sollen sie an den Abgeordnetenhaus-, Senats- und Präsidentschaftswahlen teilnehmen dürfen. Für all jene, die im Inland wohnen, würde sich allerdings nichts ändern.

Jan Kudrna | Foto: Karlsuniversität in Prag

Kritiker sehen durch den Vorschlag die Stabilität des derzeitigen Wahlsystems in Tschechien gefährdet. Dieser deutliche Eingriff wäre verfassungsrechtlich problematisch, sagt etwa Jan Kudrna, Rechtsdozent an der Prager Karlsuniversität und Mitglied des Legislativrats der Regierung. Er verweist auf die Vorschrift, dass eine Wahl in Tschechien persönlich und geheim ablaufen müsse:

„Der Wähler muss allein in die Wahlkabine gehen. Falls er das nicht tut, wird ihm die Stimmabgabe per Gesetz nicht erlaubt. Diese Bedingung gilt seit 33 Jahren. Der Wähler wird also gezwungen, sich hinter die Trennwand zu begeben. Dies wird bei einer Briefwahl nicht der Fall sein.“

Radek Vondráček  (rechts) | Foto: René Volfík,  Tschechischer Rundfunk

Unter anderem auf dieses Argument stützt sich die Opposition im Abgeordnetenhaus. Die beiden Fraktionen der Parteien Ano sowie „Freiheit und direkte Demokratie“ (SPD) lehnen die Gesetzesnovelle ab. Radek Vondráček ist Ano-Abgeordneter, Vizeparteivorsitzender und zudem Vorsitzender des Verfassungsrechtsausschusses. Eindringlich mahnt er, das „Familiensilber“ des Wahlsystems nicht anzutasten:

„Alpha und Omega von alldem ist, dass jede Wahl frei, direkt und geheim sein muss. Um welches Wahlprinzip es auch immer gehen mag – zu Beginn der Diskussion muss man sich darüber im Klaren sein, dass nichts den Standard so perfekt erfüllt wie der Gang ins Wahllokal. Bei allem anderen fehlt die Trennwand. Es wird ansonsten immer unklar bleiben, durch wen oder was der Wähler beeinflusst wird.“

Wahlen | Foto: Michaela Danelová,  Czech Radio

Diesen Einwänden bezüglich einer möglichen Manipulation oder gar eines Stimmenkaufs begegnet der Gesetzesentwurf mit einer genauen Beschreibung vom Ablauf der Briefwahl. Der Wähler müsse sich, wie bisher auch, bei der zuständigen Vertretung Tschechiens registrieren, erläutert Senator Czernin…

„Der vorgelegte Entwurf garantiert, dass sich jeder Wähler autorisiert und niemand anders für ihn abstimmen kann. Er bekommt einen eigenständigen Code, und damit ist sicher, dass die Stimme von ihm kommt.“

Während die Wahlunterlagen per Post zugeschickt würden, käme der Code auf elektronischem Wege zum Wähler, legt Czernin weiter dar. Beides zusammen würde dann in den Wahlumschlag gelegt und abgeschickt.

Ablehnung der Briefwahl aus Kalkül?

In der Diskussion um die Briefwahl in Tschechien wird immer wieder der Vorwurf laut, die Opposition sei dagegen, weil die Wähler im Ausland ihnen nicht zugeneigt seien. Dahinter steckt die Annahme, dass die zeitweise oder dauerhaft Ausgewanderten eher progressiv wählen, und dies würde derzeit eher Stimmen für die Regierung bedeuten. Sehr eindeutig waren zudem die Präferenzen bei der Präsidentschaftswahl im Januar: 95,2 Prozent der Tschechen, die im Ausland teilgenommen haben, stimmten für Ex-Nato-General Petr Pavel – und nur knapp 4,8 Prozent für den Ano-Parteivorsitzenden Andrej Babiš.

Tomáš Czernin glaubt nicht, dass die Einführung der Briefwahl Zugewinne speziell für die Regierungsparteien bringen würde. Zumal die Initiative von 50 Senatoren quer durch das politische Spektrum käme, so der Mitautor. Sein Gegendiskutant Radek Vondráček will die Frage nach dem Kalkül ganz beiseitelassen. Pikant wirkt allerdings, dass seine Partei Ano selbst noch die Briefwahl einführen wollte, als sie in der vorangegangenen Legislaturperiode die Regierung stellte. Vondráček kommentiert dies nur mit dem Hinweis, dass sich seine persönliche Haltung mit der Zeit in eine ablehnende umgewandelt habe. Und dies aufgrund der Negativbeispiele aus dem Ausland, wie etwa den USA:

„Dort wählt man schon lange auf diese Weise. So konnten etwa die Soldaten im Bürgerkrieg außerhalb ihres Wohnsitzes abstimmen. Das Problem ist aber, dass die Abstimmung per Brief zur Wahlkampfstrategie der Demokratischen Partei geworden ist. Sie zielt geradezu darauf ab. In einer Reihe wichtiger Bundesstaaten wurde die Briefwahl während des Zweikampfes von Donald Trump und Joe Biden eingeführt, worauf die Aktivisten sehr eifrig reagierten. Vielleicht standen dahinter auch gute Absichten. Aber vor allem mit Blick auf die Zeiten, in denen wir leben und in denen die Gesellschaft zweigespalten ist, müssen wir ganz besonders vorsichtig sein.“

Umschlag für US Postal Wahl | Foto: Tiffany Tertipes,  Unsplash

Tomáš Czernin antwortet darauf, dass ihn diese Beispiele nicht schrecken würden, weil in Tschechien nämlich gar nicht die Briefwahl im Inland zur Debatte stünde. Die Erleichterung solle nur jenen Bürgern ermöglicht werden, die das Land verlassen haben – etwa zu Arbeits- oder Studienzwecken und oft mit der Absicht zurückzukehren, betont Czernin:

„Ich möchte daran erinnern, dass unsere im Ausland lebenden Mitbürger keine Abtrünnigen sind. Es sind vielmehr Leute, die uns toll repräsentieren, überall als Tschechen auftreten und betonen, dass ihnen etwas an ihrem Land liegt. Nicht zuletzt schicken sie auch recht hohe Finanzbeträge nach Tschechien. Da sie aber so komplizierte Wahlbedingungen haben, sind sie wirklich in ihren Bürgerrechten eingeschränkt.“

Czernin spricht – mit Verweis auf das Innenministerium – von etwa 600.000 Staatsbürgern, die ihr Wahlrecht derzeit außerhalb Tschechiens wahrnehmen. Tatsächlich ist die Zahl derer, die von einer Briefwahl in Zukunft Gebrauch machen könnten, unklar. Bei der Einführung des Abstimmungsrechtes im Ausland zu den hiesigen Abgeordnetenhauswahlen vor etwa 15 Jahren hat das Ressort die dortige potenzielle Wählerschaft noch grob auf 50.000 bis eine Million geschätzt.

Illustrationsfoto: Delwin Steven Campbell,  Flickr,  CC BY 2.0

Die Briefwahl für die Auslandstschechen könnte aber trotzdem nur ein Anfang sein und später auch im Inland durchgesetzt werden. Dies dient als weiteres Argument ihrer Kritiker und ist als Warnung gemeint. Radek Vondráček spricht sogar von der „Öffnung der Büchse der Pandora“.

Warnung vor Diskriminierung der Wähler im Inland

Doch zurück zum ersten Schritt und dem vorliegenden Gesetzesentwurf. Eine Briefwahloption für die im Ausland lebenden Tschechen würde auch zur Diskriminierung der Wähler im Inland führen, findet Vondráček:

„Aktuell gibt es standardisierte Bedingungen für die Wahlbeteiligung aller. Auch die Bürger im Ausland können in den Vertretungen wählen – es ist nur eine Frage des Komforts. Sobald eine Bevölkerungsgruppe – also die im Ausland lebenden Tschechen – aber die Möglichkeit bekommt, auf eine andere Art zu wählen, dann ist das ein Eingriff in das Gleichheitsprinzip. Dieses ist jedoch in der Verfassung und der Charta für Grundrechte und -freiheiten festgelegt.“

Verfassung und der Charta für Grundrechte und -freiheiten | Foto: Tomáš Adamec,  Tschechischer Rundfunk

In dem Falle wäre es dann wieder legitim zu prüfen, ob die Gleichheit nicht durch eine Briefwahl für alle Tschechen wiederhergestellt werden würde, ergänzt der Abgeordnete. Tatsächlich gäbe es Hinweise darauf, dass bei Einführung der Briefwahl für Auslandstschechen das hiesige Verfassungsgericht angerufen werde. Dies sei keine Frage des Ob, sondern des Wann und Wie, so Vondráček.

Davon geht auch Verfassungsrechtler Jan Kudrna aus…

„Denn hier liegt eben das Problem. In der Verfassung sind die Bedingungen klar beschrieben, dass Wahlen persönlich, geheim und frei sein müssen. Nun wird aber offen darüber geredet, dass bei einer Briefwahl diese Regeln nicht gelten werden, und dies muss doch auch jedem Beteiligten klar sein.“

Die Frage, ob dies in Ordnung ist, will Kudrna weder den Gerichten noch den Gesetzgebern überlassen. Er appelliert daher, lieber gleich die Verfassung sowie die Grundrechtscharta dahingehend zu ändern, dass die Bedingungen an eine Briefwahl angepasst werden. Dann nämlich würden die rechtlichen Einwände in der ganzen Diskussion wegfallen, so der Hinweis des Dozenten. Dies wäre seiner Meinung nach zwar keine ideale Lösung, weil zwei Maße an die Wählerschaft angesetzt würden. Aber immerhin gäbe es dann rechtlich eine klare Regelung.

Tschechisches Generalkonsulat in München | Foto:  Tschechisches Außenministerium

So weit will der Ano-Abgeordnete Vondráček noch nicht gehen. Statt eine Briefwahl einzuführen, könnten die Bedingungen für die Auslandstschechen verbessert werden – durch eine höhere Zahl an Konsulaten etwa, eventuell nur vorübergehend für die jeweiligen Wahltermine. Und letztlich lässt Vondráček auch das Argument der Briefwahlbefürworter nicht gelten, die Postvariante würde den Wählern im Ausland Geld sparen:

„Wenn man ausrechnen würde, was eine Briefwahl kostet und wie viel neue Konsulate kosten würde, dann muss das keinen großen Unterschied machen. Aber wenigstens werden dann die Demokratie und das Wahlsystem nicht gestört.“

Autoren: Daniela Honigmann , Karolina Koubová
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