Erniedrigt und im Abseits? Gerichte dürfen geistig Behinderten das Wahlrecht entziehen

Foto: Tschechisches Fernsehen

Eigentlich sollte jeder Bürger im politischen Prozess mitwirken dürfen. Kann geistig Behinderten also die Teilnahme an Wahlen verwehrt werden? Der Oberste Gerichtshof in Brno / Brünn hatdie Frage in dieser Woche mit „Ja“ beantwortet.

Foto: Tschechisches Fernsehen
Tomáš lebt in Prag und ist geistig behindert:

„Ich gehe wählen, ich bin erwachsen und habe das Recht dazu“, sagt der 28-Jährige selbstbewusst.

Jiří ist 55 Jahre alt und ebenfalls geistig behindert. Er ist Gärtner und kommt ohne fremde Hilfe aus. Zu den Wahlen darf er nicht, obwohl er dies gern wollte:

„Ich würde meine Stimme gerne abgeben. Ich verfolge ja alles, was in unserem Staat und in der Politik vor sich geht. Ich fühle mich erniedrigt und ins Abseits gestellt dadurch, dass ich dieses Recht nicht habe.“

Jiří geht es so wie rund 37.000 anderen mental Beeinträchtigten in Tschechien. Ihnen wurde durch Gerichte die Mündigkeit aberkannt – und damit in vielen Fällen auch das Wahlrecht.

Bürgerliches Gesetzbuch  (Foto: Verlag Linde Prag)
Argumentiert wird stets mit dem neuen Bürgerlichen Gesetzbuch, demnach könnte den Betroffenen ein „ernsthafter Schaden“ zugefügt werden. Übersetzt heißt das, geistig behinderte Menschen könnten manipuliert werden und nicht ihre eigenen Ansichten vertreten.

Da die Gerichte aber keine einheitliche Vorgehensweise in solchen Fällen hatten, musste in dieser Woche der Oberste Gerichtshof in Brünn ein Urteil fällen. Petr Tomeček ist Sprecher des Gerichtshofs:

„In einem Verfahren zur Mündigkeit einer Person kann ein Gericht dieser auch weiterhin das Wahlrecht entziehen. Dabei darf aber nur ein Gericht über die Einschränkung der Rechtsfähigkeit eines Menschen entscheiden.“

Über das Urteil erfreut ist der tschechische Richterverband, er hat nun Klarheit für sein Handeln. Er hatte den Obersten Gerichtshof in einem offenen Brief auf den Missstand hingewiesen. Daniela Zemanová steht dem Verband vor:

„Der Oberste Gerichtshof hat richtig entschieden, indem er den zivilen Gerichten die alleinige Entscheidungsgewalt über die Mündigkeit und damit auch das Wahlrecht der betroffenen Personen einräumt. Ebenso gut ist es, dass die obersten Richter zudem betonen, die Gerichte müssten jeden Menschen individuell beurteilen.“

Dana Kořínková  (Foto: ČT24)
Dies war vor Inkrafttreten des neuen Bürgerlichen Gesetzbuches nicht der Fall. Damals verlor ein Mensch mit seiner Mündigkeit auch automatisch das Wahlrecht.

Bürgerrechtlern geht das aber nicht weit genug. Demnach sollte sich Tschechien an Staaten wie Australien oder Kanada orientieren. Dort ist das Wählen allen Bürgern ohne Ausnahme gestattet. Dana Kořínková ist Juristin und Pädagogin bei der Organisation Quip. Diese setzt sich für die Inklusion von behinderten Menschen in die Mehrheitsgesellschaft ein:

„Wählen ist ein wichtiges Recht für alle – und damit auch für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Wenn sie nicht wählen können, dann finden ihre Probleme nicht den Weg in die Wahlprogramme und ihre Interessen werden nicht vertreten. Dabei ist gerade das existenziell wichtig für diese Menschen, genauso wie die Frage, ob es genug Pflegedienste gibt. Nur so können Menschen mit Behinderung auch in ihrem gewohnten Umfeld leben und sind also integriert in die Mehrheitsgesellschaft, anstatt in Pflegeeinrichtungen abgeschoben zu werden.“