EU-Gerichtshof für Menschenrechte: Roma-Kinder durch Sonderschul-Empfehlung diskriminiert

Der große Senat des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hat den Familien von 18 Roma-Kindern aus Ostrava / Ostrau Recht gegeben. Der tschechische Staat hat laut Urteil ihr Recht auf Bildung verletzt und sie diskriminiert und zwar indem er sie auf die Sonderschule überwies, mit Zustimmung der Eltern – damals jedenfalls.

„Wir sind sehr froh“, sagte der Vater eines Kindes. „Ich habe noch zwei weitere kleine Kinder und ich werde alles dafür tun, dass das nicht passiert“, sagt Marcela Mikova, die Mutter eines anderen Kindes. „Das“, damit meint sie die Sonderschule. Ihr mittlerweile 19-jähriger Sohn hatte es vor vielen Jahren bis in die dritte Klasse der Grundschule geschafft. Dann kam ein Lehrerwechsel. Er wurde für die Sonderschule empfohlen. Nach einiger Zeit kam er wieder in die Grundschule, konnte aber den verpassten Stoff angeblich nicht mehr aufholen, erzählt die Mutter. Ihrer Meinung nach endete ihr Sohn damals auf der Sonderschule, weil er Roma war. Und das sah gestern der Große Senat des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg genauso, nachdem alle staatlichen Instanzen den Fall negativ beurteilt hatten. Die Tschechische Republik muss jeder Familie nun 4000 Euro zahlen sowie Verfahrenskosten erstatten.

Geklagt hatte der Anwalt der Roma, weil die Tests für die Überweisung der Kinder auf die Sonderschule nicht adäquat und die Eltern über die Folgen dieses Schrittes nicht ausreichend informiert gewesen seien. Das Urteil des Gerichtshofes basiert nicht auf einer Untersuchung der einzelnen Fälle. Es stellt eine indirekte Diskriminierung durch den Staat fest. Wie sieht die Urteilsbegründung im Einzelnen aus?

Kumar Vishwanathan  (Vertreter der Bürgervereinigung 'Vzajemne souziti') und zwei Mütter der betroffenen Kinder
Die überdurchschnittliche Zahl von Roma-Kindern an Sonderschulen, zeuge von indirekter Diskriminierung. Das Niveau an diesen Schulen sei zu niedrig und fördere die Spaltung der Gesellschaft. Was die Tests allgemein betrifft, so geht das EU-Gericht von einem Risiko aus, dass Vorurteile eine Rolle gespielt haben und dass die Ergebnisse nicht im Lichte der besonderen Situation der Roma-Kinder beurteilt wurden. Die Eltern hatten zwar der Überweisung auf die Sonderschule zugestimmt, das Gericht ist jedoch überzeugt, dass die Eltern nicht imstande waren, alle Aspekte sowie die Folgen der Situation einzuschätzen. Der Unterschied, der seitens der tschechischen Ämter zwischen Roma und Nicht-Roma gemacht werde, sei nicht berechtigt. Es habe sich gezeigt, dass die entsprechenden tschechischen Gesetze negative Folgen für die Roma-Gemeinschaft hatten. Diesem diskriminierenden Umgang waren auch die Familien der Roma-Kinder ausgesetzt. Ihr Anwalt, David Strupek, misst dem Urteil aus Straßburg eine weitreichende Bedeutung bei:

David Strupek  (Foto: Jana Sustova)
„Die Entscheidung ist allein deshalb schon ein Präzedenzfall, weil bisher nicht einmal der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine so grundsätzliche Angelegenheit in der Frage der so genannten ´indirekten Diskriminierung´ getroffen hat. Und deshalb könnte dieses Urteil nicht nur Folgen für die Tschechische Republik, sondern auch für andere Länder haben.“

Das Urteil wurde von den Senatsrichtern mit einem Stimmenverhältnis von 13:4 rechtskräftig. Zwei der Richter, die das Urteil abgelehnt haben, kommen aus Tschechien und der Slowakei. Der tschechische Richter Karel Jungwiert sieht in der Entscheidung eine Diskreditierung des gesamten tschechischen Bildungssystems. Kommentare in den Zeitungen verweisen darauf, dass die Verantwortung der Eltern für die Entwicklung ihrer Kinder außer Acht gelassen wurde.

Einige Fragen werden wohl die tschechische Gesellschaft weiterhin beschäftigen: Werden Roma-Kinder tatsächlich diskriminiert bzw. wo liegen die Gründe dafür, dass 75 Prozent der Sonderschüler Roma sind. Dient die Integration schwacher Schüler - und damit die Beseitigung der Sonderschulen – den Kindern? Oder: Wie machen wir die Sonderschulen – die bereits ihren Namen geändert haben und „Schulen mit speziellem Bildungsprogramm“ heißen – zu anerkannten Bildungseinrichtungen? Reicht da eine Namensänderung?