Europa eine Seele geben!

Bezüglich der Erweiterung der Europäischen Union, die 2004 die nächsten Kandidatenländer aufnehmen wird, möchten wir Ihnen ein Projekt mit Perspektive vorstellen. Es betrifft speziell die östlichen Nachbarstaaten Deutschlands - die Tschechische Republik und Polen. Darüber berichtet nun Brigitte Silna:

Wird ein neuer Weg beschritten, begegnen wir einerseits Begeisterung, Idealismus und andrerseits Ängsten und Skepsis. In der Mitte liegt dann die Realität, die praktisch bewältigt werden muss. Im Rahmen des bevorstehenden Zusammenschlusses fragt sich besonders die junge Generation: was bringt uns eigentlich dieser Bund künftig? Büßen wir nicht unsere Identität, unsere Kultur und Traditionen ein? Wie bereiten wir uns auf die EU-Erweiterung vor?

Diesem Problem wollte sich nun eine Projekt-Initiative widmen, die von der Evangelischen Akademie in Görlitz, dem Ökumenischen Rat der Kirchen in Warschau, dem Schlesischen Institut Opole, der Schlesischen Universität Opava/Tropau und der Ökumenischen Akademie Prag sowie von der Bundeszentrale für Politische Bildung und der Europäischen Union unterstützt und gefördert wird. Vom 26. bis 29. September fand die erste Begegnungstagung in Prag statt. Über Sinn und Anliegen äusserte sich Dr. Kerstin Bast-Haider von der Evangelischen Akademie Görlitz:

"Das Anliegen dieser Tagung war es ja, junge Menschen zusammenzuführen aus den drei Ländern Polen, Tschechien und Deutschland - aus Polen und Tschechien, die ja Beitrittskandidaten sind für die Europäische Union. Und Anliegen dieses Projektes ist es, mittelfristig zusammenzuarbeiten, das heisst, dass diese Tagung der Auftakt gewesen ist für eine hoffentlich dreijährige erfolgreiche Zusammenarbeit. Was uns gut gelungen ist, glaube ich, dass wir junge Menschen aus allen drei Ländern tatsächlich motivieren konnten, hierher zu kommen, miteinander drei wundervolle Tage in Prag zu verbringen, in dieser sehr schönen Stadt, in dieser kulturell anregenden Stadt."

Die erste Begegnung in Prag bezog sich auf die Rolle der Kultur für die Identität der in Tschechien lebenden Menschen. Um Stoff für die erste Diskussion zu bieten, gab es zwei Vorträge. Die Soziologin Prof. Dr. Barbara Fatyga aus Warschau referierte über die Identität als Zusammenspiel individueller und sozialer Faktoren, also über ihre Forschungsergebnisse, die ergaben, dass die Jugendlichen in Polen nicht genügend auf den Kontakt mit fremden Kulturen vorbereitet werden. Folglich entstehen Vorurteile und Xenophobie. Zur Ausbildungsproblematik meinte Prof. Fatyga:

"Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, vor allem im sich vereinigenden Europa, zu schauen, wie und aus welchen Lehrstoffen sich die jungen Leute bilden, aus welchen Büchern sie lernen."

Und auf meine Frage, ob auch in Polen das Leistungsniveau der Lehrer überprüft werden müsste, antwortete Frau Fatyga: "Aber natürlich ist das sehr wichtig. Wir haben jetzt in Polen eine Reform des Bildungssystem und der hauptsächliche Vorwurf ist, dass wir dort den Lehrer vergessen haben. Unsere ganze Aufmerksamkeit ist jetzt auf die Reform des Schulsystems, auf neue Programme gelenkt."

Der zweite Diskussionsbeitrag kam von einem ehemaligen tschechschen Emigranten, dem Journalisten Dr. Alexej Kusák, und bezog sich auf die tschechische Identifizierung mit der eigenen Geschichte und Literatur aus europäischer Sicht. Er gab seine Erfahrungen zum Besten:

"Ja, was die Tschechen und die Deutschen anbetrifft, da hatte ich die Möglichkeit, in der ersten Hälfte meines Lebens in Tschechien zu leben, in der zweiten Hälfte in Deutschland. Also ich kann selbstverständlich vergleichen. Ich muss vorher sagen, dass die Tschechen bei den anderen Slawen immer für die slawischen Deutschen gehalten wurden, und zwar die Polen oder die Russen hielten immer die Tschechen für ein Volk, das eigentlich sehr viel mit der deutschen Mentalität ausgestattet ist."

Dann wurden nationale Gruppen gebildet, in denen die Teilnehmer der Frage nachgingen - wer bin ich im Rahmen meiner Kultur? Weitere Fragen ergaben sich während der Tagung, die nur andiskutiert werden konnten: Bedeutet die Erweiterung eine Gefährdung für die Sprache der kleineren Länder? Wie soll der Abwanderung in den Westen und der "Konkurrenz" auf dem deutschen Arbeitsmarkt begegnet werden? Gern hätten die Teilnehmer noch länger und ausführlicher miteinander diskutiert. Auch persönliche Gespräche kamen auf Grund der kurzen Zeit leider zu kurz. Übersetzt wurde in alle drei Landessprachen, wobei auch Englisch als Kommunikationssprache diente.

Das praktische Programm führte durch die Stadt. Vier Gruppen waren mit Experten unterwegs, um moderne tschechische Kunst und moderne Architektur kennenzulernen, um in der Stadt mit tschechischen Bürgern und Touristen Interviews zu führen sowie historischen Spuren der Geschichte von`68 und ´89 nachzugehen. Ich fragte anschliessend Klaus Kehlbreier aus Dortmund, was ihm die geschichtliche Spurensuche in der Kulturstadt Prag vermitteln konnte:

"Mir ist es ganz wichtig herauszufinden, welche gemeinsamen Quellen und Wurzeln wir in Europa in der Geschichte haben. Und da glaube ich, dass es wirklich eine ganze Menge Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten zwischen der tschechischen und der deutschen Geschichte gibt. Zum Beispiel das 14. Jh mit der Blütezeit Böhmens und den Verbindungen zum Heiligen Römischen Reich, z.B. die Reformationszeit von Jan Huss im Vergleich zu Martin Luther, z.B. aber auch das 19. Jh. mit der Auseinandersetzung zwischen Österreich und Preussen, wo Böhmen so dazwischen liegt. Also gemeinsame Wurzeln und gemeinsame Geschichte zu erkennen und diese fruchtbar zu machen für die Zukunft Europas. Tschechen und Deutsche sind beide Mitteleuropäer!"

Der Koordinator und Verantwortliche für die Prager Tagung, Dr. Jiri Silny, resumierte ebenfalls über den Besuch der Teilnehmer wie folgt:

"Es gab verschiedene Gruppen, wo sie wählen konnten, ob sie eine Galerie besuchen oder ob sie Prags Architektur betrachten oder über neuere politische Geschichte erfahren an den Orten, wo die Sachen geschehen sind. Und das war, glaube ich, sehr wichtig, diese unmittelbare Erfahrung. Es haben dann auch die Reaktionen gezeigt, dass die Leute wirklich eine Entdeckungsreise machten, weil sie immer dabei einen sachkundigen Begleiter hatten. Und insgesamt war das für alle eine Erfahrung der Selbstreflexion - selbst für die Tschechen, die auf einmal lernten, die eigene Kultur mit den fremden Augen zu sehen. Das war, glaube ich, der Sinn der Sache."

Der erste Schritt ist getan, sicher eine interessante Anregung für etliche Teilnehmer, sich intensiver mit tschechischer Kultur zu beschäftigen. Natürlich bleiben noch viele Wünsche offen, wie die Arbeit in internationalen Gruppen, mehr Selbstpräsentation oder mehr Möglichkeiten zum individuellen Teilnehmeraustausch.

Im Juni 2003 wird in Warschau das Thema der Bedeutung der Religion für die in Polen lebenden Bürger behandelt, da dort der Katholizismus eine starke Basis besitzt. Aber auch weniger ernste Programme sollen geboten werden, wie zum Beispiel Lesungen, Musik und gemeinsames Kochen. Im dritten Jahr des Projekts geht es dann um die Region und ihre Bedeutung für die deutschen Bürger. Zur regionalen Identität noch einmal eine Ausführung von Dr. Kusak:

"Man muss daran denken, dass wir, also in Tschechien, in einem zentralistischen Staat leben. Das ist ein französisches Modell, das wir übernommen haben, und da denke ich, gibt es keine grosse Möglichkeit, die Zusammenarbeit regional zu lenken. Aber es gibt eine gute Zusammenarbeit zwischen den Kommunen, das heisst, zwischen Städten, sogar kleinen Städten. Und ich werde immer empfehlen, auf diese Zusammenarbeit zu setzen, weil sonst die Regionen erstens recht neu sind, zweitens haben sie nicht viel Personal, nicht viel Finanzen dafür."

In diesem Projekt werden auch die neuen Medien mit einbezogen, es gibt bereits eine home-page, also: www.european-identity.org - und sie wird mit dem Projekt und der Idee wachsen, Europa EINE Seele zu geben!!





Folgende Hinweise bringen Ihnen noch mehr Informationen über den Integrationsprozess Tschechiens in die Europäische Union:



www.integrace.cz - Integrace - Zeitschrift für europäische Studien und den Osterweiterungsprozess der Europäischen Union

www.euroskop.cz

www.evropska-unie.cz/eng/

www.euractiv.com - EU News, Policy Positions and EU Actors online

www.auswaertiges-amt.de - Auswärtiges Amt

Autor: Brigitte Silna
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