„Europa hat Putin zu lange unterschätzt“ - Senator Štětina zur Krim-Krise

Wladimir Putin (Foto: ČTK)

Jaromír Štětina ist Senator der oppositionellen Partei Top 09 und einer der wenigen tschechischen Politiker, die mehrfach in der Ukraine waren. Zuvor war Štětina mehrere Jahre als Journalist und Kriegsberichterstatter tätig, unter anderen in Tschetschenien. Am Sonntag forderte der 70-jährige Politiker zusammen mit weiteren Vertretern der Opposition klare Sanktionen der tschechischen Mitte-Links-Regierung gegen Russland. Im Interview für Radio Prag erinnert er an die besondere historische Erfahrung Tschechiens und anderer postkommunistischer Staaten mit Russland und plädiert für eine stärkere Stimme dieser Staaten in der europäischen Russland-Politik.

Jaromír Štětina  (Foto: Archiv Radio Prag)
Herr Štětina, die Tschechen sind ja aufgrund ihrer historischen Erfahrungen besonders sensibel gegenüber Großmachtsbestrebungen Russlands – viele Menschen hierzulande fühlen sich in diesen Wochen an die Okkupation der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 erinnert, es gibt eine große Solidarität hier mit der Ukraine. Schlägt sich diese besondere Sensibilität der Tschechen auch in der tschechischen Außenpolitik nieder? Wie bewerten Sie die tschechische Außenpolitik während der Krise in der Ukraine?

Wladimir Putin  (Foto: ČTK)
„Wladimir Putin ist es gelungen, durch seine grobe Verletzung internationalen Rechts und der groben Aggression gegenüber der Ukraine die tschechische politische Szene stark zu einen. Die Tschechische Republik verurteilt diese Aggression im Einklang mit allen entsprechenden Dokumenten des Europaparlaments und der Europäischen Union. Ich bin froh, dass es gelungen ist, diese Aggression zu verurteilen. Auf der anderen Seite finde ich, dass Tschechien härtere Maßnahmen und Sanktionen gegenüber der Russischen Föderation ergreifen sollte. Meiner Meinung nach müssen wir in Europa mehr politischen Mut finden, die Dinge beim Namen zu nennen: Es ist eine grobe Aggression und die größte Bedrohung der Sicherheit in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges.“

Visegrád-Gruppe
Könnten oder sollten Tschechien und andere postkommunistische Länder der Visegrad-Staatengruppe (Tschechien, Slowakei, Polen und Ungarn) hier eine Art Vorreiterrolle in Europa spielen, aufgrund ihrer historischen Erfahrungen mit Russland? Sie selbst haben ja immer wieder die besondere Verantwortung Tschechiens für andere postkommunistische Staaten betont…

„Am 28. Februar haben die Parlamentsvorsitzenden der vier Visegrad-Staaten in einer Erklärung in Budapest die russische Aggression gegenüber der Ukraine ziemlich hart verurteilt. In meinen Augen kann die Visegrad-Gruppe in dieser Frage eine wichtige Rolle spielen – gerade weil sie dieses historische Gedächtnis hat. Wir haben völlig andere Erfahrungen mit Russland gemacht als die übrigen Staaten Europas. Aber auch die Visegrad-Staaten sollten in meinen Augen noch wesentlich entschiedenere Maßnahmen ergreifen, um die russische Aggression zu verurteilen. Zum Beispiel könnten sie versuchen durchzusetzen, dass Vertreter des Russischen Föderationsrates nicht mehr in den Schengen-Raum einreisen dürfen. Denn der Föderationsrat hat am 1. März dem Einmarsch russischer Militärs in der Ukraine zugestimmt. Man könnte Konten der Mitglieder dieses Rates einfrieren. Und die EU sollte auch in der Nato die Initiative ergreifen. Denn jetzt ist es wichtig zu zeigen, dass Europa und die Nato keine Angst vor Russland haben. Europa befindet sich in einem Ausnahmezustand. Und jede Laxheit könnte sich bitter rächen.“

Visegrád-Treffen 2013  (Foto: Archiv des Regierungsamtes der Tschechischen Republik)
Haben Sie den Eindruck, dass der Rest Europas auf diese besondere Stimme der Visegrad-Staaten hört?

„Nein. Aber die Visegrad-Staaten können auch eigene Maßnahmen ergreifen, ohne die übrigen EU-Staaten. Zum Beispiel könnten sie das Aufenthaltsrecht für russische Unternehmer einschränken. Immerhin lebt in Tschechien und den anderen Visegrad-Staaten eine sehr starke ‚fünfte Kolonne‘, die im Grunde von den russischen Geheimdiensten gelenkt wird, insbesondere vom Inlandsgeheimdienst (FSB). Und diese ‚fünfte Kolonne‘ bemüht sich, die Einheit Europas und der Visegrad-Gruppe zu zerstören.“

Okkupation der Krim  (Foto: ČTK)
Sie glauben also, Europa müsste nicht um jeden Preis gemeinsame Schritte gegenüber Russland unternehmen?

„Vor allem müssen wir gegenüber Russland entschiedene Schritte unternehmen. Es reicht nicht mehr, nur beunruhigt zu sein oder zum 65. Mal zu warnen. Es reicht nicht mehr, nur den Zeigefinger zu erheben. Europa muss die Dinge klar beim Namen nennen, ohne Euphemismen. Es muss klar von Aggression und von einer Okkupation der Krim gesprochen werden. Es ist ein Kriegsverbrechen, das die russische Armee begangen hat.“

Hat die europäische Diplomatie Ihrer Meinung nach im Krim-Konflikt versagt?

„Die europäische Diplomatie steht am Anfang eines großen Versagens, das sich an Europa rächen könnte. Ich weiß sehr gut, dass für Russland und seine Führung immer eine klare Position gezählt hat. Daher hatte man im Kreml sogar eine gewisse Wertschätzung für Ronald Reagan, der den Kalten Krieg gewonnen hat. Denn er war ein starker Gegenspieler. Jedwede Schwäche nutzt der Kreml sofort für sich. Und mit dem Essen wächst der Appetit.“

Hat Westeuropa Putin viel zu lange unterschätzt?

„Ja, Europa hat Putin lange unterschätzt. Zum ersten Mal wurde das deutlich während des Tschetschenien-Kriegs, als die russische Armee 100.000 sozusagen eigene Bürger getötet hat – Bürger der Russischen Föderation. Und als die russische Propaganda einen Informationssieg feiern konnte. Nicht einmal solche großen Verbrechen wie die Ermordung der Tschetschenen und die Okkupation Abchasiens und Süd-Ossetiens vermochte Europa ordentlich zu verurteilen.“

Krim-Referendum  (Foto: ČTK)
Wie geht es weiter in der Ukraine, was ist Ihre Einschätzung? Sie waren als einer der wenigen tschechischen Politiker mehrmals in der Ukraine, auch privat. Droht nach dem Referendum ein neuer Kalter Krieg? Könnte die Krim nur der Auftakt für weitere imperiale Bestrebungen Russlands sein?

„Der Kalte Krieg hat bereits begonnen. Es gibt schon jetzt unangenehme und tragische Folgen. Der ukrainische Übergangspräsident Turtschinow hat bereits verkündet, die Ukraine werde sich nicht mit Gewalt um eine Rückkehr der Krim bemühen. Und die OSZE hat es völlig zu Recht abgelehnt, als Wahlbeobachter an dem Referendum teilzunehmen, das verfassungswidrig ist und eine reine Farce. Das Referendum ist nur ein weiterer Versuch, die Aggression zu legalisieren. Es wird ähnlich ausfallen, wie die Wahlen während des Kommunismus bei uns. Die Ukraine will sich jetzt auf die Verteidigung ihrer Ostgrenzen konzentrieren. Und es geht jetzt wirklich darum zu verhindern, dass Putin einige ostukrainische Städte besetzt.“

Europaparlament  (Foto: Pavel Novák,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Sie kandidieren bei den Wahlen zum Europaparlament – was sollte das Europaparlament in Ihren Augen als nächste Schritte gegenüber der Ukraine unternehmen? Womit sollte sich der EU-Gipfel in Brüssel am 20. und 21. März vorrangig beschäftigen? Sollte die Ukraine dort das Assoziierungsabkommen mit der EU unterschreiben?

„Ich gehe davon aus, dass das Assoziierungsabkommen unterschrieben wird, die Ukraine ist darauf vorbereitet. Es sollte sehr schnell passieren, denn es wird auch eine Bremse für die russische Aggressivität sein. Für das Europaparlament will ich kandidieren, weil die alten EU-Länder nicht unsere historische Erfahrung haben und wir sie dort einbringen müssen. Wir wissen, was diese russische Aggression bedeutet hat. Die Deutschen, Franzosen, Spanier und Engländer haben das alles nur aus der Ferne miterlebt, diesen kommunistischen Terror. Daran müssen wir immer wieder erinnern. Denn in Moskau ist im Prinzip ein krypto-kommunistisches System entstanden, mit mafiösen Strukturen und Geheimdiensten durchwebt. In Russland herrscht heute der KGB. Heute heißt er FSB, aber es ist lediglich eine Namensänderung.“