Existenzangst auf Zeit
150 000 Menschen sind betroffen, wenn tschechische Politiker die Existenzangst proben. Denn 150 000 Menschen müssen in Tschechien mit dem Existenzminimun ihren Alltag bestreiten. Und sie mussten in den vergangenen Wochen zusehen, wie vier Abgeordnete dieses Leben simulierten, einen Monat lang. Auch Daniel Satra hat nicht weggeschaut.
"Hilfe, ich bin ein Star, holt mich hier raus!" So tönt es nun schon seit Wochen aus dem australischen Urwald. Getrichtert und verstärkt durch einen deutschen Privatsender. Seitdem tobt im Nachbarland ein munterer Diskurs über die Grenzen des guten Geschmacks, der Medien-Ethik und der Menschenwürde in Fernsehformaten. Denn, so die Kritiker: Die Würde der deutschen Dschungel-Show-Teilnehmer wird schamlos entblößt, angetastet durch Kakerlaken, Schlangen, ja gar Aalschleim und Riesenspinnen. Nun, die halb-prominenten Sternchen setzen sich in den Dschungel-Mutproben freiwillig Schmach und Ekel aus, kriechen durch Larven- oder Maden-gefüllte Bottiche, suhlen sich in Schlamm und Schmadder. Das Publikum ekelt sich derweil - auch freiwillig - munter auf der sicheren Couch daheim. Die Einschaltquoten der Ekel-Show sprengen alle Erwartungen. Freiwillig geschieht auch das, was seit einigen Wochen eine handvoll tschechischer Politiker umtreibt. Parteiübergreifend haben sich vier Abgeordnete in den Dschungel der tschechischen Zivilgesellschaft begeben. Am unteren Rand der sozialen Schichtung proben sie das Überlebenstraining mit dem Existenzminimum. Die minimalen durch den tschechischen Staat garantierten Sozialeinkünfte betragen 127 Kronen am Tag (das sind knapp 4 Euro). Während deutsche Dschungelkämpfer ihre Köpfe in spinnen-gefüllte Zuber stecken, halten tschechische Politiker ihren Kopf in den leeren Kühlschrank. Während die deutsche Show-Prominenz im Schlamm wühlt, greifen die Abgeordneten in ihr leeres Portemonnaie. Und das tschechische Publikum schaut weg. Es ist ja auch keine Fernsehshow, könnte man einwenden. Doch auch Zeitungen kommentieren die gewagte Mission, die sich nah am Volk wähnt, nur zurückhaltend oder lassen sie gar ganz außer Acht. Die Öffentlichkeit bleibt im Halbdunkeln, ein Diskurs über die Armen, die Alten, über die Langzeitarbeitslosen und die alleinerziehenden Mütter in Tschechien, ein solcher Diskurs ist bisher ausgeblieben. Obwohl es gerade diese Gruppen sind, die seit Anbeginn der neuen tschechischen Gesellschaft der frühen 90er Jahre zu deren Verlierern zählen. Rund ums Existenzminimum rangieren ihre Einkünfte, ein Minimum, das sie gleichzeitig aus der tschechischen Mehrheitsgesellschaft ausschließt. Ausschluss vom Arbeitsmarkt als Langzeitarbeitsloser. Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe, dem Lebensstil einer Konsumgesellschaft, wie sie sich auch in Tschechien entwickelt hat. Ein Ausschluss oft ohne Ausweg. Denn, wie sollen die 20 Prozent Dauerarbeitslosen in den ehemaligen Industrieregion Nordböhmen und Nordmähren wieder hineingelangen in ein Arbeitsverhältnis? Wie Arbeit finden, wenn es keine gibt? Wie zurückkehren in einen allgemein anerkannten tschechischen Alltag? Wie ihre Würde, ihren sozialen Status zurückerhalten? Fragen, die sich die Politik stellen muss. Fragen, die sich eine tschechische Gesellschaft stellen muss, wenn sie nicht zulassen will, dass ein wachsender Teil von ihr außen vor bleibt. Die Politiker hingegen, die sich freiwillig eine finanzielle Auszeit nahmen und selbstverordnet darbten, sie kehren zurück. Von einem Tag auf den anderen sind sie wieder wohlhabend, sozial abgesichert, haben ein durch ihren Arbeitsalltag strukturiertes Leben, haben Status und haben Macht. Diese Macht sollten sie nutzen für die, deren Leben sie in den vergangen Wochen simuliert haben, für die sozial Schwachen. "Sie sind zwar keine Stars, aber holt sie dort raus!", sollte es in Zukunft auch hierzulande heißen. Denn sonst war das Experiment am Existenzminimum nur schlechte Show - geschmacklos, ohne Würde, ekelerregend.