Extrembergsteiger Jaroš: Ich habe mir einen Kindheitstraum erfüllt
Bei den meisten Sportarten ist die vollbrachte Leistung messbar – anhand einer Zeit, einer Weite oder Höhe. Die Leistung wird dabei oft in einem überschaubaren Rahmen vollbracht – an einem Wettkampftag binnen weniger Minuten oder Stunden. Doch es gibt auch Extremsportler, deren Leistungen so außergewöhnlich sind, dass man sie weder richtig einordnen noch genug loben kann. Zu ihnen gehören die ständigen Teilnehmer der Himalaja-Expeditionen, und einer von ihnen ist der Tscheche Radek Jaroš. Am Montag ist der 46-Jährige aufgebrochen, um einen weiteren Achttausender unserer Erde zu bezwingen.
Die 14 Achttausender, sie sind das Nonplusultra eines jeden Extrem-Bergsteigers. Elf von ihnen hat Radek Jaroš schon erfolgreich erklommen, drei fehlen ihm noch: der gefürchtete K2, der Lhotse und der Annapurna. Letzterer Gipfel war das eigentliche Ziel von Jaroš in dieser Saison, doch dann musste er seine Pläne kurzfristig ändern:
„Meine Begleiter aus Amerika und Kanada, mit denen ich den Aufstieg zum Annapurna geplant hatte, haben ihre eigenen Pläne geändert. Daher werde ich jetzt einen Achttausender als Solist besteigen, und für dieses Vorhaben scheint mir der Lhotse geeigneter zu sein.“
In der gefährlich dünnen Höhenluft des Himalajas will Jaroš also im Mai eine Solobesteigung auf den vierthöchsten Gipfel der Welt, den 8516 Meter hohen Lhotse wagen. Dafür fühle er sich physisch wie psychisch stark genug, auch wenn er zugeben müsse, dass die Strapazen ungleich höher sind als im Team:„Was man sonst in einem Team von zwei, drei, vier, fünf oder gar 16 Leuten getan hat, muss man jetzt ganz allein bewältigen. Wenn man zum Beispiel das Gepäck in der Endphase auf drei Leute verteilt, ist das noch relativ vertretbar gegenüber einer Solobesteigung. Wenn ein Einzelner alles selbst mitschleppen muss, was für die Absicherung einer Gipfelbesteigung notwendig ist, dann ist das für ihn äußerst anstrengend.“
Wie schwer aber ist denn nun die Ausrüstung, die für eine Gipfelbesteigung im Himalaja erforderlich ist?
„Ich rechne damit, dass ich von Tschechien aus so 150 bis 200 Kilogramm Material mitführen werde. Wenn ich mich dann aber nach dem Basiscamp zwischen den einzelnen Höhenlagern bewege, dann wird mein Rucksack nur noch 20, im allerhöchsten Fall 30 Kilogramm schwer sein. 30 Kilo aber sind schon eine unmenschliche Last.“
Unmenschliche Lasten, extreme Witterungsverhältnisse und die raue Natur – warum nur nimmt man all das auf sich? Bei Radek Jaroš ist die Sehnsucht nach dem Hochgebirge schon sehr früh entstanden:„Mein Traum war geboren, als ich in meiner Kindheit das Abenteuerbuch ´Himalaja-Tiger´ las. Ich war etwas neidisch auf die Helden, die in dem Buch beschrieben wurden, doch eigentlich habe ich damals nie ernsthaft daran gedacht, ihren Spuren eines Tages zu folgen. Zumal wir seinerzeit nicht einmal problemlos reisen konnten, weder nach Ungarn noch nach Ostdeutschland. Für mich hat sich also jetzt ein Kindheitstraum erfüllt.“
Inzwischen durchquert Jaroš schon ein Vierteljahrhundert die höchsten Gebirge unserer Erde, besteigt die Gipfel und hält seine Eindrücke in Tagebüchern, auf Fotos und auf Filmen fest. Immer im April und Mai, wenn die Bedingungen für eine Himalaja-Expedition am besten sind. Der Rausch am Limit zu leben, die menschlichen Grenzen auszuloten und im wahrsten Sinne immer wieder hoch hinaus zu steigen, lässt ihn kaum noch los. Aus gutem Grund:
„Selbstverständlich steckt hinter allem das Entdecken von Unbekanntem, und im Erklimmen jedes neuen Gipfels findet man seine größte Motivation. Beim Aufstieg ist jedoch nicht nur der Gipfel das Ziel, sondern der ganze Weg dorthin und zurück. Das Schöne am Extrembergsteigen im Hochgebirge ist ja gerade das gesamte Durchleben des Auf- und Abstiegs, und am schönsten ist es, wenn man seine Gefühle dabei mit Freunden teilen kann. Das gemeinsame Erlebnis Hochgebirge ist also mehr als nur das Erreichen des Gipfels.“
Deshalb ist es umso erstaunlicher, dass Jaroš den finalen Aufstieg zum Lhotse allein meistern will. Insbesondere weil er weiß, was ihm die Sache besonders erschweren wird:„Der größte Unterschied zur Teambesteigung liegt in der Psyche. Man kann sich bei niemandem an die Schulter lehnen und ausweinen, niemandem seine Ängste mitteilen, sondern muss klar im Kopf bleiben, damit man keine Fehler macht. Sicher, auch im Team sollte man keine Fehler machen, als Solist aber kann jeder Fehler fatal sein.“
Deshalb werde er, so Jaroš, auch das Basiscamp unterhalb des Mount Everest nutzen, um mit sehr vielen Leuten ins Gespräch zu kommen. An dieser Möglichkeit wird kein Mangel sein, denn zum höchsten Gipfel der Erde sind Jahr für Jahr bereits Dutzende Leute unterwegs. Im Talkessel unterhalb des Everest aber muss er auch den berühmt-berüchtigten Gletscher Khumbu durchqueren. Und vor einem Gletscher habe er stets den größten Respekt, sagt Jaroš:„Ein Gletscher ist de facto ein lebender Organismus. Er zieht sich vom Fuße der Gipfel meist Dutzende Kilometer weit ins Tal. Unter dem Schnee und Eis läuft ständig Schmelzwasser ab und wenn er sich über einem felsigen Untergrund auftürmt, beginnt er oft zu brechen, wodurch dann meist abgrundtiefe Gletscherspalten entstehen. Diese Gletscherspalten sind die größte Gefahr bei den Aufstiegen.“
Um diese Gefahr zu minimieren, werde er für den Gang über den Gletscher unbedingt einige Mitstreiter suchen, um sich gegenseitig am Seil zu sichern. Denn ein Soloritt über den Gletscher sei einfach unverantwortlich, so Jaroš.Danach aber, wenn man sich auf die letzten Kilometer zum Gipfel aufmacht, muss man in erster Linie auf das Wetter achten. Kräftige Stürme können einem die letzte Kraft rauben, so dass man nie genau weiß, wie oft man seinen Aufstieg unterbrechen muss. Vor zwei Jahren, als er den 8163 Meter hohen Manaslu allein bezwang, habe er allein vier Lager auf einem Höhenkilometer errichtet. Deswegen müsse man im Hochgebirge vor allem Geduld mitbringen, betont Jaroš.
„Man kann hier oben nichts nach Höhe oder Entfernung beurteilen, sondern nur nach Zeit. Die vermeintliche Entfernung ist nicht der aussagekräftigste Faktor, sondern es geht viel mehr darum, wie lange man an einem Tag unterwegs ist. Sagen wir zum Beispiel zwölf Stunden. Aufgrund des Wetters und anderer Einflüsse aber kann man nie vorher sagen, für welchen Aufstieg diese Zeit reichen wird. Manchmal schafft man nur 200 Höhenmeter, manchmal 1000 Meter.“
Um alle seine Expeditionen finanzieren zu können, hat der von der Böhmisch-Mährischen Höhe stammende Jaroš bereits mehrere Sponsoren. Er ist Teilhaber einer Baufirma, aber kümmert sich nur zweitrangig um die Belange des Unternehmens. Denn mittlerweile sei er ein professioneller Extrembergsteiger, der seinen Sponsoren auch einiges zurückzahle, so Jaroš. So testet er zum Beispiel neue Materialien für die Hersteller unter den extremen Bedingungen des Himalajas und hält alle seine Erfahrungen in Wort und Bild fest. Daraus entstehen dann Vorträge, Fotoausstellungen, Kalender, Bücher und Filme über seine Expeditionen – Präsentationen also, in die seine Sponsoren eingebunden sind. Und ein Ende dieser Zusammenarbeit ist noch nicht abzusehen, weil jede Expedition ihren eigenen, ganz speziellen Reiz habe, resümiert Jaroš:„Auch wenn ich zweimal die gleiche Strecke absolviere, ist sie nicht dieselbe. Jedes Jahr ist das ein völlig anderes Erlebnis, denn die Expedition kann beim zweiten Male leichter oder schwerer sein. Auch wenn man eine Strecke schon vor zehn Jahren absolviert hat, heißt das nicht, dass ein erneuter Aufstieg jetzt keinen Wert mehr hätte. Im Gegenteil, die Expedition kann viel schwerer sein, und zwar wegen der Unwägbarkeiten des Hochgebirges.“