Familie von heute in ihrer Existenz bedroht

„O tempora, o mores“ ist der alte lateinische Ausspruch, mit dem Cicero, Philosoph, Politiker und einer der berühmtesten Redner im alten Rom, den Verfall der Sitten zu seinen Lebzeiten beklagte. Der Ausspruch ist im Lauf der Zeit nicht in Vergessenheit geraten. Es gab doch jederzeit genug Anlässe, sich über die Sittenänderung zu beschweren, insbesondere beim jeweiligen Generationswechsel. Daran hat sich auch in unserer postmodernen Zeit nicht viel verändert. Was heutzutage als Dorn im Auge der älteren Generation gilt, ist das offenbar unaufhaltsam bröckelnde Modell des einst unantastbaren Heiligtums – der Familie. Der Frage, wie es um die Institution „Familie“ im heutigen Tschechien bestellt ist, geht das heutige „Forum Gesellschaft“nach.

In den zurückliegenden 60 Jahren hat die Entwicklung der Familie hierzulande zwei unterschiedliche Etappen durchlaufen. Beide spielten sich auf einem jeweils unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Fundament ab. Die erste Zeitspanne begann 1948 mit einem radikalen Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus. Viel mehr als die These eines Friedrich Engels, nach der die erste Voraussetzung zur Befreiung der Frau deren vollständige Eingliederung in die öffentliche Industrie darstelle, war es damals der hohe Bedarf an jeder Arbeitskraft, der die volle Beschäftigung der Frauen erzwang und damit grundsätzlich die Lebensweise der neu umstrukturierten Gesellschaft prägte.

Mit dem politischen Umbruch 1989 begann auch eine neue Entwicklungsetappe der tschechischen Familie. Ihren aktuellen Stand kennzeichnet der Leiter des Instituts für Familienforschung in Brno / Brünn, Josef Zeman, wie folgt:

„Wir leben in der postkommunistischen Gesellschaft, die auf fast 19 Jahre ihrer Existenz zurücblicken kann. Das ist aus der Sicht des Umwandlungsprozesses in der Gesellschaft, im Hinblick auf ihre demografischen Entwicklungsmerkmale also, eine sehr kurze Zeit. Gewisse Phänomene, die unter dem totalitären Regime aufgetaucht sind und insbesondere das Funktionieren der Familien prägten, leben auch heute in der Denkweise der Menschen weiter.“

Nicht selten gibt es hierzulande freudige Stimmen darüber zu hören, wie gut tschechiche Familien im internationalen Vergleich abschneiden. Josef Zeman ist einer anderen Meinung:

Foto: Štěpánka Budková
„Es zeigt sich, dass die Meinung, nach der das Verhalten unserer Familien ähnlich ist wie in den anderen demokratischen Staaten, übertrieben einseitig war. Unsere Familien verhalten sich anders. Hierzulande gibt es niedrigere Geburtsraten, höhere Scheidungsraten, höhere Kriminalität wie auch eine höhere Anzahl von sozialpathologischen Erscheinungen. Es hat folgende Gründe: Die Entwicklung, die im Allgemeinen die Familien in den westlichen Ländern durchgemacht haben, wurde in ausschlaggebender Weise durch Mechanismen und familienfördernde Aktivitäten geprägt, die auf die Sanierung der Familie ausgerichtet waren. Bei uns gab es diese Mechanismen nicht. Sie wurden alle in der Zeit des Totalitarismus zerstört und konnten nicht so schnell wiederhergestellt werden, weil das allgemeine Mißtrauen der Menschen gegenüber den öffentlichen Institutionen überdauerte. Auch dann noch, als sich gemeinnützige Institutionen bereits etabliert haben.“

Der Tschechische Rundfunk hat sich kürzlich in den Straßen Prags umgehört. Die Frage lautete: Haben Sie eine zufriedene Familie? Hier einige Antworten:

„Nein. Mein Mann ist in der Sciontology-Sekte gelandet und beide Kinder haben ein Augendefekt“

„Ich glaube schon. Man muss gegenseitig tolerant sein und miteinander über Probleme sprechen. Das ist das Wichtigste.“

„Wir leben separat. Ich bin allein und meine Schwester ist auch allein. Unsere Mutter ist in einer Heilanstalt für Langzeitpatienten und unser Vater lebt auch allein. Wir sehen uns aber ab und zu. Ob man das als ein Zusammenleben nennen kann, weiß ich nicht.“

So oder ähnlich haben auch andere Befragte geantwortet. Mit der Scheidungsrate rangiert Tschechien bereits seit Jahren an der Spitze der EU-Tabelle. Jede zweite Ehe geht landesweit laut Statistik in die Brüche. Ein Großteil der Kinder, die in Tschechien zur Welt kommen, sind uneheliche Kinder, Tendenz steigend. Von den 8,6 Prozent 1990 ist ihre Zahl im Jahr 2002 auf 22 Prozent gestiegen. Die jüngste Statistik, veröffentlicht nach dem ersten halben Jahr 2008, spricht von 36 Prozent der Kinder, die außerhalb der Ehe geboren wurden. Was ist das größte Problem der tschechischen Familie von heute? Die Familienpsychologin Lenka Čadová sieht es folgendermaßen:

„Die Klienten beschweren sich oft über Probleme in der Kommunikation, über häufige Streitigkeiten, sei es um Kinder oder um Eigentum.“

Nach der Wende 1989 hat die Zahl der Eheberatungsstellen in Tschechien deutlich zugenommen. Čadová kann das bestätigen:

„Am Anfang meiner beruflichen Laufbahn war es überwiegend die weibliche Angelegenheit. Derzeit ist das gegenseitige Verhältnis ausgeglichen, aber vor einem Jahr waren 85 Prozent meiner Klienten paradoxerweise die Männer.“

Zwischen Frauen und Männern, die sich früher oder später einen Rat in einer Eheberatungsstelle holen, besteht jedoch ein relativ großer Unterschied:

„Ich würde sagen, die Frauen kommen zu uns – wie man sagt – fünf Minuten vor zwölf. Die Männer hingegen kommen erst dann, wenn ihnen sozusagen das Wasser bis zum Hals steckt, das heißt, wenn man um das entstandene Problem nicht mehr nur drum herum laufen kann. Das gilt sowohl für eine Partnerbeziehung als auch im Arbeitsleben.“

Dass das Interesse an Familienberatung zunimmt, weiß auch die Privatpsychologin Eva Hornatá aus ihrer Praxis:

„Die Zahl meiner Klienten nimmt ständig zu. Immer wieder geht es um Probleme Eltern versus Kinder, vor allem revoltierende Halbstarke, die mit ihren Eltern Konflikte haben zum Beispiel in Fragen Schule, Freizeit oder Partys. Im Prinzip geht es immer um ein und dasselbe.“

Psychologen, Soziologen, Philosophen und Vertreter anderer Berufsgruppen sind in Ihren Ansichten über die Zukunft des Instituts „Familie“ nicht einig. Einige sind von ihrem Bestehen fest überzeugt, andere sprechen davon, dass es die Familien auch künftig in irgendeiner Form geben wird, allerdings weniger als heute. Etwas extrem hört sich immer noch die Meinung einiger Besserwisser, die Spezies „Familie“ würde aussterben. Aber wer weiß?

Zu den Letzteren zählt Markéta Seligová von der Fakultät für humanwissenschaftliche Studien der Prager Karlsuniversität zwar nicht, eine weitere Entwicklung des heutigen Modells der Familie steht aber fest, sagt sie:

„Es steht außer Zweifel, dass sich die Rolle der Familie in der Gesellschaft abschwächen wird. Das geht eigentlich Hand in Hand damit, dass es nicht mehr wirtschaftlich notwendig ist, dass zwei Menschen, Mann und Frau, sich im Paar vereinen, um mit ihren Gehältern Kinder zu ernähren. Es steht aber fest, dass es die Familie als solche, in einer fassettenreichen Form immer gab, gibt und offenbar auch geben wird.“

Der Zukunft der Familie sieht auch der Leiter des Brünner Instituts für Familie, Josef Zeman, zuversichtlich entgegen.

„Ich bin eindeutig ein Optimist, und zwar auch in dem Sinne, dass es bei uns nur ein paar Jahrzehnte dauern wird. Es ist nicht möglich, im Laufe von zwei oder drei Generationen – mit einer Generation meine ich eine 25jährige Zeitperiode – eine substantielle Wende herbeizuführen. Die Qualität der skandinavischen Gesellschaften hat sich im Prinzip über mehrere Jahrhunderte lang entwickelt.“

Abschließend noch ein Zitat: „Es gibt Kinder, die sich verhalten, als ob sie keine Eltern hätten, und es gibt Eltern, die sich verhalten, als ob sie keine Kinder hätten.“ Johann Wolfgang von Goethe. Das gilt leider auch in der heutigen Zeit, ja sogar noch mehr als zu Goethes Lebzeiten. Einen ähnlich klugen Gedanken des großen und in der Liebe tüchtigen Mannes, der die Frau-Mann-Beziehung aufs Korn nimmt, haben wir nicht parat.