„Totale Verantwortungslosigkeit zweier Erwachsener“ – internationale Kindesentführungen

Zdeněk Hromádka mit seiner Tochter Anička (Foto: Lidové noviny, 21.1.2009)

Jedes Jahr landet ein ähnlicher Fall in den tschechischen Medien. Es sind zumeist binationale Ehen, die in die Schlagzeilen geraten. Oft ist es der ausländische Partner, der nach dem Auseinanderbrechen der Ehe das gemeinsame Kind mit in sein Heimatland nimmt. Mehrere Dutzend ungelöster Fälle von Kindesentführung versuchen das Justizministerium und das Ministerium für Arbeit und Soziales zu klären. Auf der Strecke bleiben meist der zurückgelassene Partner und das Kind. Wie im folgenden aktuellen Fall in Tschechien.

Der Tscheche Zdeněk Hromádka mit seiner vielleicht drei Jahre alten Tochter Anička - lachend, eng ineinander verschlungen, zu Hause beim Toben. Es ist ein Foto aus besseren Zeiten. Fast alle Tageszeitungen im Land haben es gedruckt. Seit nunmehr zehn Monaten hat Zdeněk Hromádka seine Tochter nicht mehr gesehen. Ihr genauer Aufenthaltsort: unbekannt. Klar ist nur: Anička ist in Russland. Zdeněks Frau Olga, eine Russin, hatte das gemeinsame Kind 2008 mit in ihr Heimatland genommen, wo sie nach eigenen Aussagen ihre kranke Mutter pflegen müsse.

„Meine Frau hat mir nichts davon gesagt, dass sie mit Anička nach Russland ausreist. Erst als sie bereits dort war, hat sie sich wieder gemeldet. Sie hat mir und dem Gericht einen kurzen Brief geschrieben.“

Die Vorgeschichte der Familientragödie ist schnell erzählt: Zdeněk und Olga Hromádka trennen sich bereits nach wenigen Jahren Ehe. Es läuft ein Scheidungsprozess. Das Sorgerecht für Anička hat die Mutter. Zunächst versuchen beide, sich mit Hilfe eines Mediators friedlich darüber zu einigen, wer wann das Kind haben soll. Aber dann wirft die Mutter ihrem Mann vor, die Tochter sexuell zu missbrauchen. Unbegründet, wie die Polizei herausfand. Der Vater kämpft vor Gericht um das Sorgerecht und verweist schon damals auf die Gefahr, dass die Mutter mit ihrer Tochter ausreisen könnte. Erst die höhere Instanz gewährt ihm das Sorgerecht. Die Richter verbieten der Mutter, ohne besondere Erlaubnis mit dem Kind auszureisen. Doch das Urteil kommt zu spät. Zu diesem Zeitpunkt sind Mutter und Kind bereits in Russland.

Vater Zdeněk wirft seiner Frau vor, sie habe das Kind entführt. Auch die Medien greifen den Fall auf. Von Russland aus nimmt Olga Hromádková Stellung zu den Vorwürfen:

„Ich verwehre mich dagegen, mein Kind geklaut zu haben. Es ist auch mein Kind. Ich bin seine Mutter. Wie kann eine Mutter ihr Kind klauen?“

Das größte Problem ist, wie machtlos der Vater den Tatsachen und den russischen Behörden gegenübersteht. Mit jedem Tag dürfte seine Tochter in Russland heimischer werden. Eine Mitarbeiterin der tschechischen Botschaft in Moskau hat sogar berichtet, das Kind habe inzwischen - über welchen Weg auch immer - einen russischen Pass erhalten.

Rechtlich ist die Situation für den Vater vor allem deshalb ungünstig, weil Russland die zentralen internationalen Verträge zum Thema Kindesentführung nicht unterschrieben hat. Am wichtigsten ist dabei das „Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen“. Es verpflichtet die Unterzeichner-Staaten, Sorgerechts-Entscheidungen anzuerkennen, die in dem Land getroffen wurden, in dem das Kind bislang gelebt hat. Auf den Fall „Hromádka“ übertragen hieße das: Die russischen Behörden müssten das Kind unverzüglich nach Tschechien zurückschicken. Aber Russland ist dem Übereinkommen nicht beigetreten. Und das Verfahren über die Anerkennung des tschechischen Gerichtsurteils, das muss nun vor russischen Justizbehörden geführt werden. Veronika Andrtová, Referentin im tschechischen Sozialministerium:

„Die Angelegenheit ist kompliziert, und zwar vor allem, weil es um Russland geht. Der rechtliche Rahmen bei dieser Geschichte ist ein Vertrag, den die damals noch sozialistische Tschechoslowakei mit der Sowjetunion im Jahr 1983 geschlossen hat. Auf jeden Fall wird es lange dauern, bis es einen Richterspruch gibt.“


Zdeněk Hromádka hatte anfänglich wenigstens noch E-Mail-Kontakt zur Mutter. Er versucht, so oft wie möglich mit seiner Tochter zu telefonieren. Viermal in der Woche ruft er in Russland an. Manchmal darf er mit seinem Kind sprechen, manchmal nicht. Er wolle auch gerne nach Russland reisen, sagt er, bislang habe er aber kein Visum bekommen. Denn dafür braucht man eine Einladung, und die habe ihm seine Frau bisher nicht geschickt.

Mehr könne im Augenblick nicht getan werden, als die russischen Behörden um unverzügliche Bearbeitung des Falles zu bitten, heißt es seitens tschechischer Behörden. Das Hauptproblem sei der russische Pass des Kindes. Zdeněk Hromádka hat sich dennoch an Präsident Václav Klaus und mehrere Parlamentarier gewandt. Auch der Präsident schrieb, ihm fehlten die rechtlichen Befugnisse, um in den Fall eingreifen zu können. Das war auch bei Senator Jaromír Štětina so. Er hat sich jedoch entschieden, wenigstens als Privatmann Hilf zu leisten. Und zwar mit einem Brief an das russische Gericht und an den zuständigen Gouverneur – ein Appell an den Gerechtigkeitssinn und eine Bitte um schnelles Handeln. Aber nicht nur das:

„Den wichtigsten Brief, den ich nach Russland geschickt habe, habe ich an die Mutter gerichtet. Ich habe ihr von privat zu privat geschrieben, als ein alter Mann, der weiß, dass ein Kind sowohl die Mutter als auch den Vater braucht“, so Štětina.

Petr Nečas
Die Fälle von internationaler Kindesentführung durch ein Elternteil sind nicht selten. Die tschechischen Ministerien befassen sich mit mehreren Dutzend aktuellen Fällen. Kinder, die von Tschechien in alle möglichen Länder und Kontinente - nach Australien, nach Portugal oder eben nach Russland – gebracht wurden. Arbeits- und Sozialminister Petr Nečas brachte vor einiger Zeit das Problem auf den Punkt:

„Der Staat kann sich in den meisten Fällen erst mit den Ergebnissen totaler Verantwortungslosigkeit zweier erwachsener Menschen befassen, die als Eltern das Interesse ihres Kindes nicht an erster Stelle sehen.“

Zdeněk Hromádka jedenfalls hofft für sich und seine Tochter Anička immer noch auf ein glückliches Ende der Geschichte. Aber ganz gleich wie der Fall ausgehen wird, die Entführung hat bereits viel Schaden angerichtet. Psychologen weisen darauf hin, dass es in solchen Fällen keine Gewinner gibt. Viele Verhaltensmuster, die in solchen Situationen zu beobachten wären, hätten seelische Schäden zur Folge. Jeroným Klimeš, Kinderpsychologe in Prag:

„Der Partner, der weggeht – und das ist meistens die Frau – indoktriniert zum Beispiel oft das Kind. Die Mutter versucht, es auf ihre Seite zu ziehen, es zu überzeugen, dass der Vater ein schlechter Mensch ist.“

Zdeněk Hromádka will sich dennoch nicht unterkriegen lassen. Er kämpft weiter:

„Wenn ich nicht selbst daran glauben würde, dass ich sie wieder sehe und dass wir wieder miteinander spielen werden, dann könnte ich gleich einpacken.“