Für den Grenztourismus wiederentdeckt: Ehemalige böhmische Enklaven in der Oberlausitz

Jochen Kaminsky (Foto: www.lusatia-superior.de)
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Es begab sich einmal vor vielen Jahren, dass in der sächsischen Oberlausitz nahe der böhmischen Grenze der Räuberhauptmann Karasek sein Unwesen trieb. Dieses geschah zu einer Zeit, als es in Sachsen, genauer in der Oberlausitz, mit Schirgiswalde und Niederleutersdorf zwei böhmische Inseln, sogenannte Enklaven, gab. Zwei, die diese Zeit der Enklaven ins Bewusstsein der Menschen von heute hieven helfen, und zugleich den Tourismus in der Grenzregion stärken wollen, sind der Reisebegleiter Jochen Kaminsky und der Museumsdirektor des Karasekmuseums in Seifhennersdorf, Heiner Haschke. Menno van Riesen hat sich mit ihnen für unsere heutige Ausgabe der Sendereihe "Begegnungen" unterhalten und erfahren, dass Deutsche und Tschechen an der Grenze zwischen der Oberlausitz und Böhmen vor allem eines verbindet: Eine wechselvolle Geschichte.

Nah an der Grenze zu Böhmen liegt das kleine sächsische Ebersbach. Dort ist Jochen Kaminsky zu Hause. Als selbstständiger Reisebegleiter führt er Touristen durch die Oberlausitz, Sachsen, Polen und Tschechien. Kaminsky selbst bezeichnet sich als "Geschichtsinteressierter mit Leidenschaft". Und wollen wir gerade die Bedeutung der böhmischen Enklaven begreifen lernen, müssen wir das Rad der Zeit weit zurückdrehen, und zwar bis ins Mittelalter hinein, als alles begann, wie Kaminsky weiß: "Die Oberlausitz ist ja ein eigener kleiner Staat gewesen, der durch Kaiser Barbarossa 1158 in die Hand der böhmischen Herzöge verlehnt wurde. Das heißt, er wurde leihweise vergeben, als Dank für militärische Hilfe. Und als dann 1526 die Habsburger den böhmischen Thron bestiegen, und die Oberlausitz folglich in den Machtbereich derer von Habsburg kam, nahm die Geschichte ihren Lauf."

Der Prager Fenstersturz,  1618
Denn von nun an gerät der Stein ins Rollen. Eine wichtige Marke setzt der so genannte "Religionsfrieden" von 1555, der die Landesherren befugte, die Konfessionszugehörigkeit für ihre Herrschaftsgebiete verpflichtend festzulegen. Da die Mehrzahl der böhmischen Stände protestantisch, der neue habsburgische König Ferdinand II. jedoch katholisch war, barg die neue Regelung reichlich Zündstoff. Der Unmut der Stände über den neuen Religionszwang gipfelte im "Prager Fenstersturz" von 1618, dem Vorboten des 30jährigen Krieges, in dessen Konsequenz die Böhmen mehrheitlich ihren König wieder absetzten. Als wenig später jedoch Ferdinand II. zum Kaiser gewählt wurde, ging er militärisch gegen die böhmischen Stände vor, wie Kaminsky berichtet:

"Und weil aber Ferdinand selber militärisch zu schwach war, gegen die böhmischen Stände vorzugehen, hat er sich Waffenhilfe gesucht. Die hat er zunächst einmal bei Maximilian von Bayern gefunden, mit dem er gemeinsam gegen die protestantischen Stände Böhmens in die Schlacht am Weißen Berg bei Prag gezogen ist, und welche er auch gewonnen hat. Aber diese militärische Unterstützung reichte nicht aus: Für die Besetzung der Oberlausitz hat Ferdinand den lutheranischen Kurfürsten Johann Georg von Sachsen hinzugezogen, der also jetzt im Auftrage des Kaisers die Oberlausitz besetzte, damit sich deren Bewohner nicht den böhmischen Glaubensgefährten anschließen konnten."

Als Dank für die militärische Unterstützung übergab Ferdinand II. die Oberlausitz an Johann Georg von Sachsen als Lehen. Damit wechselte jenes Gebiet nunmehr als Nebenland der böhmischen Krone nach Sachsen. Kaminsky fährt fort:

"Und die Entstehung der Enklaven ist darauf zurückzuführen, dass einige Gebiete nicht bloß verlehnt wurden, sondern zu diesem Zeitpunkt, 1635, sich in direkter Hand des böhmischen Königs befanden. Man könnte fast sagen, in "Vorübergehendem Privatbesitz". Und diese Markflecken musste der böhmische König nicht an Sachsen mit herausgeben. Somit verblieben sie nun als Enklaven oder Inseln inmitten der sächsischen Oberlausitz."

Zunächst waren es vier böhmische Inseln: Zwei von ihnen, Güntersdorf und Niedergerlachsheim werden nach dem Wiener Kongress 1815, als infolge der Niederlage Österreichs gegen Napoleon ein großer Teil Sachsens Preussen zugeführt wird, aufgelöst, und viel später, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, Polen zugesprochen. So verblieben nach 1815 nur noch die Enklaven Schirgiswalde und Niederleutersdorf. Doch während Niederleutersdorf infolge seiner Machtstruktur stärker an Böhmen gebunden war, geriet die Stadt Schirgiswalde immer mehr in einen "Status der Vergessenheit", wie Kaminsky es nennt:

"Aus den Überseehäfen Hamburg und Bremen kamen ganze Wagenladungen nach Schirgiswalde, da, wenn es nach "Nirgendwo" geht, es an keiner Grenze Zoll kostet, und so blieben die eingebrachten Waren billig. Anschließend hat man die Güter in Schirgiswalde gestapelt und nachts ins Umland geschmuggelt. Und somit entwickelte sich in Schirgiswalde ein nahezu rechtsfreier Raum. Einmal kam es zu einem folgenschweren Vorfall, als neuer Ortsrichter, der ja aus Böhmen kam, eine Frau sehr bedrängte, die ihre Steuern nicht zahlen konnte. Da ist eine kleine Revolte entstanden, und die Leute haben den Richter zum Teufel gejagt. Sächsisches Militär wollte eingreifen, konnte es aber nicht, da sie keine Hoheitsrechte besaßen. Und bei diesem ganzen Durcheinander ist allen Verantwortlichen noch einmal richtig klar geworden, das etwas geschehen müsse, um diesen rechtsfreien Raum aufzuheben."

Nach vielen Verhandlungen gelangen schließlich 1848 bzw. 1849 die beiden Enklaven Schirgiswalde und Niederleutersdorf endgültig nach Sachsen. Noch heute kann man in der Oberlausitz viele Spuren aus dieser Zeit entdecken. So wird etwa mit Leutersdorf heute vor allem ein Name verbunden: Johannes Karasek. Zu Ehren des ehemaligen Räuberhauptmannes gibt es im benachbarten Seifhennersdorf das Karasek-Museum. Häufig führt sogar Karasek persönlich die Besucher durch die Räume, in Gestalt von Heiner Haschke, dem Museumsleiter und offiziell berufenem Botschafter der Oberlausitz. Haschke erläutert:

"Johannes Karasek ist 1764 in Prag-Zmichov geboren. Dort hat er den Beruf des Tischlers gelernt, und ist dann auf Wanderschaft gegangen, durch Böhmen und Mähren. Bei seiner Suche nach Arbeit wurde er allerdings mehrfach zum Militär gepresst, dort hat er aber immer wieder desertiert. Zwar wurde er stets sehr hart bestraft - das eine Mal bekam er sogar 60 Stockschläge aufs nackte Gesäß - aber auch das hat nicht gefruchtet, und so ist Karasek wieder desertiert und kam so letzten Endes in das sächsisch-böhmische Grenzgebiet."

Als Karasek sich einer Räuberbande anschloss und die Mitglieder ihn bald drängten, ihr Hauptmann zu werden, stellte er eine entscheidende Bedingung, wie Heiner Haschke weiß: "Er sagte: Ich will nur euer Räuberhauptmann sein, wenn wir es so machen wie der Marder. Ein Marder räubert nie im eigenen Revier, und damit meinte Karasek die böhmische Enklave. Die sollte sauber bleiben, aber rings herum fanden später Einbrüche und Diebstähle statt."

Vor allem beraubte Karasek wohlhabende Bürger, und so entstand im Laufe der Jahre die Legende vom Helfer der Armen, obgleich er freilich das meiste in die eigene Tasche gesteckt hat. Nachdem die Bande eines Tages ausgehoben wurde, verbüßte Karasek bis zu seinem Tod eine Festungshaft in Dresden. Das Karasek-Museum hält viele Erinnerrungsstücke parat: u. a. Karaseks Degen, erbeutete Taler, und viele originale Schriftdokumente. Aber auch andere Stätten in der Region erinnern an Karasek und die Enklavenzeit, wie Hasche erzählt:

"Wir haben z. B. 1995 in Seifhennersdorf den `Karasek-Ringwanderweg` eröffnet, das ist ein viereinhalb Kilometer langer Wanderweg mit vielen Informationstafeln im westlichen Teil der einstigen böhmischen Enklave, wo es noch viele Zeugnisse aus dieser Zeit zu sehen gibt. Wir können hier etwa gut die einstigen Enklaven-Grenzwälle erkennen, die verhindern sollten, dass man ungehindert mit einem Wagen über die Grenze fahren konnte. Wir sehen die alten Grenzsteine und natürlich vieles andere mehr."

Wie etwa die versteckt gelegene "Karasekhöhle" oder die "Karasekschenke" direkt an der Grenze der ehemaligen böhmischen Enklave. Und natürlich die für die oberlausitzsche Region so typischen und in Europa einmaligen "Umgebindehäuser", ein Mix aus Fachwerk und dem von slawischen Stämmen eingeführten Blockstufenbau. Um die Touristen mit den Kulturgütern vertraut zu machen, helfen viele grenzüberschreitende Festivitäten. Heiner Haschke führt zum Beispiel den alljährlichen "Familienspaß mit Karasek" am ersten Mai an:

"Das ist ein großes historisches Spektakel, wo man in die alte Zeit abtauchen kann: Es gibt viele Schauvorführungen des alten traditionellen Handwerks, Spiele aus Großmutters Zeiten, und dazu sind bekannte Künstler dabei. Auch `Karaseks Naturmarkt` darf nicht fehlen, auf dem viele Händler ihre Naturprodukte anbieten. Und natürlich besuchen uns auch Gäste aus der Tschechischen Republik. Wir haben ja zwei größere Städte direkt bei uns angrenzend: Die Stadt Varnsdorf und die Stadt Rumburk, die an solchen Tagen ebenso an den Festivitäten teilnehmen."

50-60% der Besucher seien Tschechen, sagt Haschke. Im Jahre 1992 war ihm zum ersten Mal die Idee gekommen, die geschichtsträchtige Region mehr publik zu machen. Kurzerhand entschloss er sich, aus dem ehemaligen Stadtmuseum in Seifhennersdorf ein Räubermuseum und eine Touristinformation zu machen.

"Wir hatten immer ein Problem dadurch, dass wir zu drei Seiten an die Tschechische Republik angrenzen, und unsere eigenen Einwohner gesagt haben: `Bei uns ist doch nichts los, wir sind doch`, ich sage es mal so brutal, `der Arsch der Welt`. Und dann habe ich einfach über die Grenzen hinweg geschaut, und musste feststellen, dass gerade rund um Seifhennersdorf sehr schöne reizvolle Ecken liegen. Ich bin dann auf die tschechischen Partner zugegangen und habe auch Broschüren von Seifhennersdorf mit dabei gehabt, um Kontakte zu knüpfen. So habe ich sehr nette Leute jenseits der Grenze gefunden, egal ob in den Museen, den Touristinformationen oder unter den Bürgermeistern."

Zum Zwecke einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit treffen sich heute regelmäßig Museumsvertreter aus der südlichen Oberlausitz und aus Nordböhmen. Vor einem Jahr entstand auf dieser Basis eine gemeinsame Museumsbroschüre, in der sich alle Museen im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet vorstellen. Und auch der Tourismus auf tschechischer Seite ist im Kommen, so entwickelt sich das Lausitzer Gebirge etwa stets mehr zu einem kleinen Skiparadies. Und im Sommer nehmen hier Tausende von Besuchern Teil an von Tschechen und Deutschen gemeinsam organisierten Wandertouren. Heiner Haschke ist sichtlich zufrieden, wie sich die einst verschmähte Grenzregion gewandelt hat und erzählt:

"Wir hatten in Seifhennerdorf einmal eine Tagung, wo die tschechischen Bürgermeister aus dem ganzen Gebiet des Schluckenauer Zipfels, Rumburk und Varnsdorf bei uns im Museum waren. Dort kam es zum Erfahrungsaustausch, und ich glaube, man hat verschiedene Dinge, die wir hier angekurbelt haben, sehr aufmerksam beobachtet und versucht, bestimmte Dinge auch so zu gestalten. Das kann nur gut sein für diese Region, wenn wir uns gegenseitig befruchten."