Fußball in Theresienstadt: ein Holocaust-Überlebender und ein Sportpublizist erzählen
In den Archiven in Theresienstadt liegt ein ganzer Berg an Akten nur zu einem Thema: dem Fußball. Denn in dem Ghetto, in das die Nazis Juden aus ganz Europa sperrten, wurde regelmäßig gekickt. Und das nicht nur zufällig, sondern mit einem kompletten Ligabetrieb. Der Fußball hatte einen hohen Stellenwert im gesellschaftlichen Leben in Terezín / Theresienstadt, obwohl er überschattet war von den Transporten in die Vernichtungslager.
„Man spielte vielleicht eine Stunde, und alle haben vergessen, wo sie sind. Hauptsache sie spielten Fußball.“
František Steiner hat selbst die Inhaftierung in einem KZ überlebt und weiß, was dies bedeutet: wie wenige Gelegenheiten es gab, den täglichen Erniedrigungen und der Angst im Lager zu entfliehen – sei es auch nur für kurze Zeit. In den meisten Konzentrationslagern und selbst in Auschwitz wurde Sport betrieben. Nicht gemeint sind damit die Leibesübungen, mit denen die SS die Häftlinge demütigte oder gar zu Tode hetzte, sondern die freiwillige Betätigung. Das war lange ein Tabuthema, zu makaber schien das Nebeneinander von Tod und Vergnügen. Erst in letzter Zeit hat sich das geändert, jüngere Historiker haben die Hemmschwelle überwunden und begonnen, auch dazu zu forschen. Und Sportjournalist Steiner? Er wurde erst sehr spät auf das Thema gestoßen:
„Ich traf einen Fußballfan am Graben - das ist eine der Hauptstraßen in Prag, die zum Wenzelsplatz führt. Ich kannte ihn nicht und kenne auch bis heute seinen Namen nicht. Er sagte mir: ´Herr Steiner, Sie schreiben das ganze Leben über Fußball, aber dass in Theresienstadt Liga gespielt wurde – dazu kein einziger Satz.´ Ich sagte, in Theresienstadt sei niemals erste, noch zweite oder dritte Liga gespielt worden. Er sagte: ´Irrtum, im Zweiten Weltkrieg wurde dort erste und zweite Liga gespielt.´ Davon wusste ich aber nichts. Ich bin dann in den nächsten Tagen nach Theresienstadt gefahren und habe das Archiv besucht. Unglaublich: Fast ein Meter hoch stapelten sich die Papiere über Fußball. Es wurde über Spiele berichtet und über die Mannschaften. Und ich hatte Glück, dass noch viele Spieler leben. Und obwohl sie zwischen 75 und 90 Jahre alt sind, haben sie sich an manche Sachen erinnert, die ich nicht mal im Archiv fand.“Einer dieser ehemaligen Spieler ist Tomáš "Tommy" Karas. Er war von den Nazis als zehnjähriger Junge mit seinen Eltern und dem älteren Bruder nach Theresienstadt verschleppt worden. Tommy Karas spielte dort in der Jugendliga und behauptet, Fußball sei ein wichtiges Ereignis im Ghetto gewesen:
„Es wurde sogar wahnsinnig viel darüber geredet, außer über die Transporte, vor denen sich jeder gefürchtet hat. Neben den Transporten war also vor allem der Fußball das Gesprächsthema.“Die Familie Karas wurde im Dezember 1942 nach Theresienstadt deportiert. Die Menschen waren dort in den alten Kasernengebäuden der Festung untergebracht. Der jüngere Sohn Tommy blieb bei seiner Mutter in der ehemaligen Hamburger Kaserne. Sein fünf Jahre älterer Bruder und der Vater kamen in die Sudetenkaserne.
„Als wir nach Theresienstadt kamen, gab es bereits Kinder- und Jugend-Fußballteams, und ich habe mich gleich angemeldet. Ich habe dann für die Hamburger Kasernen gespielt, wo 4500 Menschen lebten. Wir nannten uns Sparta und waren eine Siebenermannschaft. Die Fußballteams in Theresienstadt hatten nicht elf, sondern sieben Spieler.“
Und dies war nicht nur die Spielerzahl bei den Nachwuchsmannschaften, sondern auch bei den Erwachsenenteams. Denn die Fußballplätze waren vergleichsweise schmal, sie waren nur 20 Meter breit, bei 80 Meter Länge. Sportjournalist Steiner ergänzt:
„Die Mannschaften bestanden aus einem Torhüter, zwei Verteidigern, einem Mittelfeldspieler und drei Stürmern.“Man spielte also offensiv auf den Fußballplätzen in Theresienstadt. Nicht nur deswegen fand der Ligabetrieb auch eine hohe Zahl an Zuschauern:
„Der Besuch zu den Spielen war unglaublich groß: 2500 im Durchschnitt. Gespielt wurde in den Höfen der Kasernen. Und die Zuschauer saßen unten um das Spielfeld herum und standen in den Fenstern der Stockwerke. Das letzte Spiel zwischen dem Sieger der Liga und dem Pokalsieger fand sogar vor einer Rekordkulisse von 3500 Zuschauern statt“, so Steiner.
Mindestens zweieinhalb Jahre lang bestanden in Theresienstadt mehrere Fußballligen. Weder Karas noch Steiner wissen von Eingriffen oder Beschränkungen durch die Nazis. Anders als beispielsweise in Auschwitz gab es auch keine Spiele gegen Mannschaften der SS, bei denen es etwa um Leben und Tod ging. Der Ligabetrieb wurde von der jüdischen Selbstverwaltung im Lager organisiert. Nur in den Wintermonaten wurde wegen mangelnder Heizmöglichkeiten nicht gekickt, aber ab Februar zogen die Jungendlichen und die Männer wieder regelmäßig ihre Trikots über – und das bis in den November. Ihre Teams benannten sie nach ihren Berufen, nach dem Arbeitsplatz oder ihren Lieblingsvereinen. Da spielten dann „Köche“ gegen „Kleiderkammer“ oder „Maccabi Ostrava“ gegen den „FC Wien“. Doch welcher war der beste Klub? Tommy Karas:„Die Kleiderkammer wohl, die hatten einige hervorragende Fußballspieler, vor allem Österreicher. Sie waren, glaube ich, die Besten. Auch gut waren die Köche und die Gärtnerei. Aber sie hatten alle nur maximal acht Spieler, darunter vielleicht zwei Torhüter. In der Regel waren dann zwei oder drei gut, die anderen waren nur zum Auffüllen da. Das ließ sich nicht anders machen.“
Zu den besten Spielern gehörten auch einige ehemalige Profis, wie Frantisek Steiner erläutert:
„Es waren dort auch Stars, die meist für den DFC, den Deutschen Fußballclub Prag, gespielt hatten oder in Teplice oder Brünn. Hauptsächlich waren dort aber Amateurfußballer, die als Jugendliche in den Vereinen gespielt und noch nicht die höchste Klasse erreicht hatten. Im A-Team hatten nur drei, vier, fünf Spieler gespielt. Paul Mahrer war der einzige, der zudem Nationalspieler gewesen war. Er hat sechs Länderkämpfe für die Tschechoslowakei bestritten, in den Jahren 1923 bis 1926, und war Läufer, also Mittelfeldspieler – und war wirklich eine Klasse für sich.“Paul oder Pavel Mahrer war damals schon über 40 Jahre alt, und mit 55 Einsätzen in der ersten tschechoslowakischen Liga hielt er den Rekord beim DFC Prag.
Zum Fußball gehören aber nicht nur Stars, sondern auch die Fans. Tommy Karas erinnert sich, dass selbst in Theresienstadt eine Art Fankultur entstand. So saß man nach den Spielen noch zusammen und unterhielt sich über die Begegnungen, die man gesehen hatte. Aber nicht nur das, die jüngeren Fußballanhänger gingen sogar auf Autogrammjagd.
„Schwierig war nur, dass wir kein anständiges Papier hatten und schon gar keine Fotos der Spieler. Man hatte vielleicht nur ein Fetzen Papier, aber auch das wurde hoch geschätzt. Ich habe jede Menge Autogramme gehabt. Wenn ich jemanden gekannt habe, bat ich ihn, mir doch von diesem oder jenem Spieler ein Autogramm zu besorgen. Der hat dann vielleicht in der Kabine gesagt: ´Komm, unterschreib mir hier, einer der Jungs nervt mich deswegen.´“Das alles klingt fast schon normal, doch war es eher der Wunsch nach Normalität. Denn Theresienstadt gehörte wie die anderen Lager zum Vernichtungsfeldzug gegen die jüdische Bevölkerung. Die Nazis wussten den Fußball aber für ihre Propaganda zu missbrauchen und duldeten daher die Spiele, erläutert František Steiner:
„Die wollten zeigen, dass es kein Konzentrationslager ist – dass dort auch Fußball gespielt wird und Theater zum Beispiel. Denn zweimal kam auch die Weltorganisation des Roten Kreuzes nach Theresienstadt. Es sah dann so aus, als sei es wirklich nur die Stadt, in der Juden wohnten, und nichts mehr. Selbstverständlich war das nicht so.“
Eine Spielszene aus der „Liga Terezín“ ist auch in dem Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ aus dem Jahr 1944 zu sehen. Der Film ist eine Lüge. In Wirklichkeit starb in Theresienstadt ein Viertel der Gefangenen aufgrund der Lebensumstände, weitere 60 Prozent wurden in die Vernichtungslager im Osten transportiert und dort umgebracht.
Auch Tommy Karas hat seinen Vater und seinen Bruder durch den Holocaust verloren. Beide waren zwar den Transporten nach Auschwitz entgangen, doch die Nazis verschleppten sie in ein anderes KZ und injizierten ihnen künstlich Typhus. Beide starben an der Krankheit.