Gegen Kriegsverbrechen und Kollaboration - die "Retributionsprozesse" 1945-1947
Mai 1945: Der Krieg ist zu Ende, auch in der Tschechoslowakei, wo noch bis in die letzten Tage gekämpft wurde. Sieben Jahre nationalsozialistischer Willkür und Terrorherrschaft liegen hinter dem Land. Wie kann man mit dieser Vergangenheit leben? Neues Leid, die Vertreibung der tschechoslowakischen Deutschen, ist eine Antwort. In den so genannten Retributionsprozessen, die vor 60 Jahren zu Ende gingen, wurde aber auch der Versuch gemacht, die Täter vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen.
Dekret 16/1945 vom 19. Juni 1945. Dekret des Präsidenten über die Bestrafung der nationalsozialistischen Verbrecher, Verräter und ihrer Helfer:
"Nach unnachsichtiger Gerechtigkeit rufen die unerhörten Verbrechen, welche die Nazisten und ihre verräterischen Mitschuldigen der Tschechoslowakei gegenüber begangen haben. Die Verknechtung des Vaterlandes, das Morden, die Versklavung, die Plünderungen und die Demütigungen (...), bei denen leider auch untreu gewordene tschechoslowakische Bürger mitgeholfen oder mitgewirkt haben (...), müssen unverzüglich die verdiente Strafe erhalten, damit das nazistische und faschistische Übel von den Wurzeln her zerstört wird."
"Insgesamt wurden bei den so genannten Retributions- oder Vergeltungsprozessen etwa 30.000 Menschen verurteilt, davon rund die Hälfte Deutsche, 35 Prozent Tschechen und Slowaken und etwa 15 Prozent andere Nationalitäten, vor allem Ungarn und Polen. Dabei muss man aber sehen, dass zu den Deutschen hier auch diejenigen Tschechen gezählt wurden, die im Laufe des Krieges die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben. Davon gab es unter den Verurteilten keine geringe Zahl",so der Historiker Jiri Plachy. Die Verfahren richten sich gegen Kriegsverbrecher und Kollaborateure, also gegen deutsche Nationalsozialisten, gegen Funktionsträger der deutschen Armee und Verwaltung, die an Verbrechen beteiligt waren, aber auch gegen ihre tschechischen und slowakischen Helfershelfer:
"Es gab ein Verzeichnis von Institutionen, die der Kollaboration zugezählt wurden. Bei einigen hat die Mitgliedschaft gereicht, bei anderen war es für eine Verurteilung notwendig, eine Funktion gehabt zu haben. Das war zum Beispiel bei der NSdAP der Fall - da war nur die Ausübung einer Funktion strafbar. Bei der SA dagegen, auch wenn sie in den Nürnberger Prozessen nicht als verbrecherische Organisation eingestuft wurde, war in der Tschechoslowakei schon die bloße Mitgliedschaft strafbar."
Die Sondergerichte hatten nur eine Instanz, eine Berufung war nicht möglich, erklärt der Historiker Jiri Plachy. Sie konnten Geld- und Haftstrafen aussprechen, aber auch Todesurteile, die dann innerhalb von drei Stunden zu vollstrecken waren.
"In der Praxis hat für die Verhängung der Todesstrafe gegolten, dass mindestens ein tschechoslowakischer Bürger durch die Taten des Angeklagten ums Leben gekommen sein muss. Gegen Gestapo-Angehörige und Mitglieder der Protektoratsverwaltung wurden Todesurteile etwa bei Beteiligung an der Deportation von Juden oder der Hinrichtung von Widerstandskämpfern verhängt. Bei tschechischen Kollaborateuren stand die Todesstrafe etwa auf Denunziation mit Todesfolge - auch zum Beispiel wenn jemand wegen einer Denunziation ins KZ kam und dort den Krieg nicht überlebt hat."Mehr als 700 Todesurteile wurden in den Jahren 1945 bis 1948 vollstreckt, der allergrößte Teil davon in den Retributionsverfahren. Dahinter stehen auch tragische Schicksale:
"Zum Beispiel gibt es da eine Frau aus Most / Brüx. Sie hat in gemischter Ehe gelebt, ihr Mann war Tscheche, sie Deutsche. Ihr Mann hat sie 20 Jahre lang geschlagen und tyrannisiert, bis sie ihn schließlich 1943 bei der Polizei angezeigt hat - aber nicht wegen der häuslichen Übergriffe, sondern weil er zu Hause eine Pistole versteckt hatte. Im gleichen Moment hat sie verstanden, was sie da eigentlich getan hat, und hat mit allen Mitteln versucht, ihren Mann wieder aus dem Gefängnis zu bekommen, aber da war es schon zu spät, und er wurde zum Tode verurteilt. Um nicht ihr ganzes Eigentum zu verlieren, nahm sie die deutsche Staatsbürgerschaft an, ihr einziger Sohn musste daraufhin sofort zur Wehrmacht und ist im Frühjahr 1945 gefallen. Sie selbst wurde nach Kriegsende verhaftet, und obwohl alle Zeugen zu ihren Gunsten ausgesagt haben, wurde sie zu Tode verurteilt und hingerichtet."
Die Retributionsgerichte waren per Dekret zunächst auf zwei Jahre beschränkt, im Mai 1947 wurden sie aufgelöst; die restlichen Verfahren gingen an Zivilgerichte. Im Februar 1948 übernahmen die Kommunisten die Macht in der Tschechoslowakei - der Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte des Landes.
"Nach 1948 haben sich die Gefängnisse schnell mit tschechischen politischen Gefangenen gefüllt, und es war klar, dass sich bei den Retributionshäftlingen etwas ändern muss. Als 1955 die letzten deutschen Kriegsgefangenen in Russland frei gelassen wurden, gab es auch eine große Amnestie in der Tschechoslowakei."Im Herbst 1955 wurde der Großteil der Gefangenen entlassen. Die deutschen Häftlinge wurden abgeschoben - wahlweise nach Ostdeutschland, Westdeutschland oder Österreich. Tschechische Fachleute und Spezialisten, die sich mit den Nationalsozialisten eingelassen hatten, fanden den Weg zurück in einflussreiche Posten - auch das neue System wollte auf ihre Kenntnisse nicht verzichten. Einfache Kollaborateure kamen nicht selten bei der kommunistischen Staatssicherheit unter, die gefügige und erpressbare Mitarbeiter gut brauchen konnte. Die Erinnerung an die Protektoratszeit und die Kollaboration blieb aber noch lange wach, meint der Historiker Jiri Plachy:
"Das ist meine private Erinnerung: Meine Tante und mein Onkel haben ein Haus gekauft von Leuten, die sich im Krieg zu den Deutschen bekannt hatten und die dann noch weiter dort in der Nachbarschaft gewohnt haben. Und ich erinnere mich, dass noch in den 80er Jahren alle gewusst haben, dass das die waren, die im Krieg kollaboriert haben."
Andere wiederum haben es verstanden, die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen und ihre Strafe aus den Retributionsprozessen in eine positive Legende zu verwandeln, erzählt Jiri Plachy. Die Flucht aus der eigenen Verantwortung - ein universelles Phänomen.
"Der nationalsozialistische Sicherheitsdienst hat im Frühjahr 1945 ein Kommando aus sechs freiwilligen Kollaborateuren aufgestellt, das den Chef der damaligen tschechoslowakischen Exilregierung Edvard Benes umbringen sollte. Davon hat wenigstens einer zumindest vor kurzem noch gelebt - in einer kleinen Stadt hier in Tschechien, wo er als aktiver und ehrbarer Bürger gilt. Die Leute wissen, dass er unter den Kommunisten bis 1955 im Gefängnis war, aber er gilt eben als politischer Häftling - niemand weiß, dass er schon seit 1945 gesessen hat, dass er eigentlich ein Attentat auf Benes ausführen sollte und aktiver Kollaborateur war, der noch im Frühjahr 1945 an den Sieg der Nazis geglaubt hat."