Geschichte zum Anfassen: Auf Spurensuche im jüdischen Viertel von Boskovice

Die Stadt Boskovice / Boskowitz in Südmähren feiert in diesem ihr 800. Jubiläum. Bei Touristen ist der Ort vor allem wegen seines jüdischen Viertels beliebt. Aber was ist von der Bevölkerungsgruppe geblieben, die einst einmal ein Drittel der Stadt ausmachte? Wir sind auf Spurensuche gegangen...

Alice Hrbková | Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International

Boskovice war einst eines der Zentren der Juden in Mähren. Aber warum? Das erklärt Alice Hrbková im Interview mit Radio Prag International. Sie leitet das Museum im ehemaligen jüdischen Gemeindehaus der Stadt:

„Boskovice ist eine sehr alte Stadt. Im Mittelalter lag der Ort an der Handelsstraße Trstenická stezka. Es kamen also Menschen aus aller Welt hierher, und das zog natürlich auch jüdische Händler an.“

Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International

Hrbková erzählt, dass das jüdische Viertel Historikern zufolge sehr alt sei. Die ersten Belege für eine Ansiedelung von Juden stammen jedoch erst aus dem 15. Jahrhundert. Die Handelsstraße war aber nicht der einzige Grund dafür, dass viele Menschen jüdischen Glaubens in den Ort kamen…

„Boskovice war bei den Juden ein gefragter Ort, da es ihnen hier relativ gut ging. Mit ein wenig Übertreibung könnte man sagen, dass die städtische Obrigkeit die Anhänger der Religion regelrecht verwöhnt hat. Im Lauf der Geschichte wuchs ihre Gemeinde sehr. Auf dem Höhepunkt waren mehr als ein Drittel der Bewohner Juden.“

Polizei, Feuerwehr, Schule: Das Viertel funktionierte autark

Die Bedeutung der Stadt für das jüdische Leben in Europa zeigt sich an einem besonderen Beispiel…

„Es gab hier eine der gefragtesten Jeschiwen überhaupt, also eine jüdische Hochschule. Zudem predigten berühmte Rabbiner in der Stadt. Die Jeschiwa hatte eine konservative Ausrichtung. Im Grunde genommen schickten Väter aus ganz Europa ihre Söhne hierher zum Studium – wenn sie es sich erlauben konnten.“

Boskovice - Jüdische Viertel | Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International

Wie auch in anderen Städten war das jüdische Viertel unabhängig von den umliegenden christlichen Besiedlungen. Als administratives Zentrum fungierte das jüdische Gemeindehaus, in dem sich nicht nur die Schule befand, sondern auch die eigene Polizeistation, der Magistrat und die Feuerwehr für das Viertel. Insgesamt gab es drei Synagogen in Boskovice. Das Zusammenleben mit der christlichen Bevölkerung, deren Kirchen in unmittelbarer Nähe standen, beschreibt Alice Hrbková als weitestgehend friedlich:

„So wie überall gab es auch hier natürlich Konflikte. Nie sind sie aber bis zu einem Pogrom eskaliert. In Ansätzen gab es eine Entwicklung in diese Richtung. Die Obrigkeit war aber wie gesagt sehr aufgeklärt. Der Graf hatte seine Informanden und rief Verstärkung der Polizei herbei. Er unterband so, dass es zu einem Blutvergießen oder Plünderungen kommen konnte.“

Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International

Dennoch verließen bereits im 19. Jahrhundert viele Juden Boskovice…

„In der Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Juden rechtlich gleichgestellt, und sie emanzipierten sich. Deshalb kehrten sie vor allem kleineren Städten den Rücken. Juden durften nun Handel betreiben und alle Errungenschaften genießen, die auch alle anderen hatten. Das war also eine großartige Gelegenheit für sie. Die jüdische Bevölkerung aus Boskovice zog deshalb in größere Städte um wie Brünn, Wien oder Olmütz.“

Das endgültige Ende für das jüdische Leben in Boskovice bedeutete der Holocaust. Die perfiden Pläne Adolf Hitlers gingen sogar so weit, im Rahmen der „Endlösung“ in Boskovice ein Konzentrationslager einzurichten, ähnlich dem im böhmischen Terezín / Theresienstadt. Von dort aus sollten die Menschen in die Vernichtungslager verschleppt werden. Zur Realisierung dieses Vorhabens kam es zwar nicht, dennoch überlebten nur wenige Juden der Stadt die Vernichtungslager während des Zweiten Weltkriegs.

Das jüdische Viertel lebt bis heute

Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es kurzzeitig zu einer Wiederbelebung der jüdischen Gemeinde, doch heute gibt es kein Gemeindeleben mehr vor Ort. Was geblieben ist von den Juden von Boskovice, sind unter anderem ihre Häuser. Mehr als die Hälfte der Gebäude von damals sei auch heute noch erhalten, erzählt Alice Hrbková. Und so hätte Boskovice heute eines der am besten erhaltenen jüdischen Viertel in Tschechien. Aber warum konnte der Stadtteil bewahrt werden?

„Ich denke, das Viertel hat einfach weitergelebt. Nachdem die Juden in den Gaskammern umgebracht worden waren, zogen hier schnell nicht-jüdische Menschen her. Vor allem waren es schlechter situierte Personen, denn die Bedingungen hier waren alles andere als gut. Es entstand also ein Armenviertel. Aber es hat weiterbestanden. Bis heute ist das hier ein Wohnviertel. Die Besucher nehmen das als angenehm wahr. Ich denke, es ist gut, dass aus dem Stadtteil kein Freilichtmuseum geworden ist.“

Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International

Tatsächlich scheint das jüdische Viertel eine ganz normale Wohngegend zu sein. Doch die Geschichte ist unverkennbar, wenn man nur genauer hinsieht. Alice Hrbková nimmt das Team von Radio Prag International etwa mit zu einem Haus, in dem sich noch eine Mesusa befindet. Dies ist eine metallene Schachtel, die in einer kleinen Aussparung im Eingangsportal des Gebäudes steckt…

„Im Inneren befindet sich eigentlich ein zusammengerolltes Stück Pergament. Darauf steht ein Vers aus der Thora. Wenn ein Jude nun durch den Türrahmen geht, berührt er die Mesusa leicht und küsst dann seine Finger. Oder er deutet dies an, denn eigentlich geht es nur um die Geste. Durch das Ritual verspricht ein Jude, sich im Inneren des Hauses nach den Regeln seines Glaubens zu verhalten. Das ist aber noch nicht alles. Denn wenn man das Gebäude verlässt, wird das Ganze wiederholt. Damit sagt man im Prinzip: ‚Herr im Himmel, ich habe alle Regeln eingehalten.‘“

Geschichte an jeder Straßenecke

Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International

Derartige unscheinbare Sehenswürdigkeiten gibt es in Boskovice wortwörtlich an jeder Straßenecke. Wir laufen an einem schmucklosen Metallstab vorbei, der in einer Mauer an einer Kreuzung steckt. Alice Hrbková erklärt:

„Der Stab wird Eruv genannt. Dass er hier erhalten ist, ist schon etwas Besonderes. Eruvim gab es auch anderswo, aber unserer steht bis heute. An der Stange wurde zu bestimmten Anlässen ein Draht oder eine Kette befestigt. Das war das Zeichen dafür, dass das jüdische Viertel geschlossen ist. Bei jüdischen Feiertagen zum Beispiel wurde der Stadtteil auf diese Weise abgeriegelt.“

Elemente wie die Mesusa oder der Eruv sind unauffällig, wenn man ohne Vorwissen durch Boskovice geht. Ein guter Startpunkt für eine Erkundung des Viertels ist deshalb das jüdische Gemeindehaus, das Alice Hrbková leitet. Hier gibt es eine Dauerausstellung über das Judentum in der Stadt. Zudem kann man einen Ofen zum Backen des traditionellen Fladenbrotes Matze bestaunen und die Wohnung eines Rabbiners besuchen. Doch bei beiden Attraktionen handelt es sich lediglich um Imitate. Alice Hrbková erklärt, warum:

„Das Haus ist nicht mehr in seinem ursprünglichen Zustand. Es handelt sich stattdessen um einen Umbau aus dem 19. Jahrhundert. Damals wütete nämlich ein großes Feuer in Boskovice. Im Grunde verschwand dabei das ganze jüdische Viertel. Das Gebäude wurde deshalb im Stil des Empire wiederaufgebaut, der damals gerade in Mode war. Zu dieser Zeit richteten sich die Juden ihre Wohnungen aber schon ähnlich ein wie Nicht-Juden.“

Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International

Was trotz des großen Feuers in Boskovice erhalten geblieben ist, sind die Mikwaot. Zumindest drei dieser jüdischen Tauchbäder haben überlebt, und eins davon ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Wie Alice Hrbková erklärt, musste es sich bei dem Wasser für das rituelle Bad um Grundwasser handeln. Und tatsächlich ist festzustellen, dass die entsprechende Wasserzufuhr bis heute funktioniert. Wann und wie das Tauchbad in Boskovice von den Männern benutzt wurde, war jedoch sehr individuell…

„Wie oft man in das Wasser eintauchte, hing von den regionalen Bräuchen ab und von der Frömmigkeit. Diejenigen, die sehr fest im Glauben standen, haben die Mikwe sicherlich vor jedem Gottesdienst genutzt, teilweise sogar jeden Tag. Andere wiederum tauchten nur vor größeren Feiertagen unter oder vor den allerwichtigsten Festen.“

Aber auch Frauen nutzten das Bad – vor allem um sich rituell zu waschen. Sie hatten dabei weniger Freiheiten…

Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International

„Verheiratete Frauen sind einmal im Monat in die Mikwe gegangen, und zwar nachdem sie ihre Tage hatten, um sich für ihren Ehemann zu reinigen. Außerdem mussten Frauen das rituelle Bad vor der Hochzeitsnacht durchführen.“

Auch nach der Geburt eines Kindes nahmen die Frauen ein Bad in der Mikwe. Zudem wurde in dem Becken neues Geschirr erstmals gewaschen. Bis heute werden Mikwaot im Judentum übrigens entsprechend genutzt – genauso wie Eruvim und Mesusot in jüdischen Gemeinschaften nicht der Vergangenheit angehören.

Gebaut, verfallen, saniert: Die Synagoge von Boskovice

Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International

Das Wahrzeichen des jüdischen Viertels in Boskovice ist die Synagoge, die als einzige von dreien der Stadt erhalten geblieben ist. Im Jahr 1639 wurde sie vom italienischen Architekten Silvestr Fiota im Stil des Barock errichtet. Im Laufe der Jahre wurde das Gebetshaus mehrmals umgebaut und vergrößert. Eine Besonderheit ist die Ausrichtung des Gebäudes…

„Synagogen wurden immer so gebaut, dass der Thoraschrein in Richtung Jerusalem zeigt. Hier wurde aber eine Ausnahme gemacht, denn das Haus hätte sonst nicht mehr in die Straße gepasst, die es schon gab. Das Gebäude ist deshalb nicht ganz so ausgerichtet, wie es eigentlich sein sollte. Aber das war gerade noch zulässig“ , so Alice Hrbková, die meint, dass die Juden zwar viele Regeln hätten, in Notfällen aber meist eine Ausnahme möglich sei.

Foto: Michal Sýkora,  Museum der Boskovice Region

In dem Toraschrein der Synagoge befinden sich heute keine heiligen Texte mehr. Denn die Torarollen wurden von den Nazis entfernt. Und wie in den meisten dieser Fälle fanden sie in Boskovice nicht ihren Weg zurück in das Gotteshaus. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg ging es nicht gut weiter für die Synagoge, berichtet Alice Hrbková.

„Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und es zum Holocaust kam begann die Synagoge zu verfallen. Das Gebäude wurde als Lager für alles Mögliche genutzt. Die Wandmalereien wurden dabei stark beschädigt. Wie man unten sieht, konnten einige nicht gerettet werden.“

Nach der Samtenen Revolution wurde die Synagoge jedoch umfangreich saniert, seit 2002 ist sie wieder zugänglich. Der Großteil der Wandgemälde ist so zum Glück auch heute noch erhalten.

Foto: Michal Sýkora,  Museum der Boskovice Region

Die Öffnungszeiten und Eintrittspreise für die Synagoge und das jüdische Gemeindehaus können Sie der Website des Regionalmuseums Boskovice einsehen: www.muzeum-boskovicka.cz.

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