„Gewisse Sachen sehe ich nicht mehr wie ein Deutscher“ – Martin Hof, Chemiker und Leiter des Heyrovský-Instituts in Prag
Ursprünglich stammt Martin Hof aus Oberbayern. Doch seit 1993 lebt er in Prag und leitet hier mittlerweile das Heyrovský-Institut für physikalische Chemie. Womit beschäftigen sich die Wissenschaftler an dieser renommierten Forschungsstätte? Wie ist der Institutsleiter selbst zur Chemie gekommen? Und was hat ihn nach Prag gebracht?
Herr Hof, Sie leiten das Heyrovský-Institut für physikalische Chemie in Prag. Können Sie einem Laien in Kürze erklären, was dort gemacht wird, woran dort geforscht wird?
„Im Zentrum steht die physikalische Chemie. Das ist eine Disziplin, die zum einen Methoden entwickelt, mit denen man von der Astrobiologie oder Astrophysik bis zu fundamentalen Prozessen im Körper alles Mögliche untersuchen kann. Das heißt physikalisch-chemische Methoden werden sehr breit angewendet. Zum anderen ist in dieser Disziplin wichtig zu verstehen, in welcher Wechselwirkung Atome und Moleküle miteinander stehen, wie die Reaktionsmechanismen auf atomarer und molekularer Ebene funktionieren.“
Sie haben an Ihrem Institut die Abteilung für biophysikalische Chemie aufgebaut. Das heißt, zu Physik und Chemie kommt mit der Biologie eine weitere Naturwissenschaft hinzu. Warum ist das sinnvoll?
„Die chemische Forschung in Tschechien ist stark geprägt durch eine sehr breite Schule von Theoretikern und Computerchemikern.“
„Um die elementaren Prozesse in der Biologie zu verstehen, muss man eben physikalisch-chemische Methoden entwickeln, mit denen man sich auf dem Niveau einzelner Moleküle diese Prozesse anschauen kann. Die biophysikalische Chemie ist als Disziplin auch in Deutschland sehr stark. Man sollte wissen, dass das Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen mehrere Nobelpreisträger hervorgebracht hat. Vielleicht auch dadurch angeregt habe ich bereits in meiner Diplomarbeit damit begonnen, mich für dieses Gebiet zu interessieren. Das war 1986 und ist also schon etwas länger her.“
Hat die chemische Forschung in Tschechien eigentlich eine besondere Ausrichtung oder bestimmte Schwerpunkte?
„Sicherlich. Die chemische Forschung hierzulande ist stark geprägt durch eine sehr breite Schule von Theoretikern und Computerchemikern. Dies geht 50 Jahre zurück. Meine heutigen Kollegen bilden die zweite oder dritte Generation, die darin sehr erfolgreich ist. Sehr viele Forschungsanträge hierzulande werden von Leuten geschrieben, die Experimente in silico, also am Computer machen. Daneben gibt es ebenso gewisse klassische Richtungen, die in Tschechien besonders gepflegt werden, wie zum Beispiel die Katalyse. Und in unserem Institut wird sehr viel an Zeolithen geforscht, das ist auch ein Unterschied. Nicht vergessen werden darf des Weiteren, dass Jaroslav Heyrovský ein Elektrochemiker war, und sein Forschungsgebiet hier als Disziplin stärker vertreten ist als in anderen Ländern.“
Sie haben den Chemie-Nobelpreisträger Jaroslav Heyrovský erwähnt: Wie pflegen Sie an Ihrem Institut sein Erbe?
„Die Identifizierung mit den Werten, die Jaroslav Heyrovský ausgemacht hat, ist bei uns ganz wichtig. Wir sehen ihn als jemanden, der uns vorgibt, wie wir uns in der Wissenschaft verhalten sollten. Ich hatte zudem die Ehre, in meiner Abteilung seinen Sohn Michal Heyrovský zu haben. Er ist leider schon verstorben. In jedem Fall muss man sagen, dass Jaroslav Heyrovský ein Vorbild war für das, was die Wissenschaft mit der Ethik und Menschlichkeit verbindet. Er war ein sehr anständiger und bescheidener Mensch, der sehr gute Wissenschaft gemacht hat. In unserem Institut wird daher auch die Ethik großgeschrieben und sehr gute Forschung betrieben. Insofern leben wir die Vision – im Tschechischen würde man sagen: den ‚odkaz‘ – von Herrn Heyrovský sicher weiter.“
Sie sind ja Institutsleiter. Kommen Sie in dieser Position denn noch selbst zum Forschen?
„Selbst, mit eigenen Händen, mache ich keine Experimente mehr. Aber ich schreibe Anträge, ich formuliere Forschung und verfasse Artikel. Sicher ist das also weniger als vor meiner Berufung als Institutsleiter. Ich habe 2017 die Leitung übernommen, und zu Beginn muss man sich sowieso auf die neue Aufgabe etwas konzentrieren. Man stellt also die Forschung zur Seite. Dann kam Covid-19, da waren die Entscheidungen auch nicht so leicht. Und darauf folgte der Krieg in der Ukraine, der uns auch finanziell getroffen hat. Es war also keine so günstige Zeit, um Direktor zu sein. Und trotzdem ist es gelungen, Wissenschaft zu betreiben. Und ich muss sagen: Jetzt – also letztes und auch dieses Jahr – habe ich den Plan, ganz stark in die Wissenschaft zurückzukehren, weil ich ganz einfach spüre, dass ich mit der Leitung des Instituts bereits so viel Erfahrung habe, um mit weniger Einsatz dafür zurechtzukommen.“
Sie haben Chemie studiert. Wann und wodurch wurde dieses Fach zu Ihrer Leidenschaft?
„Ich fand das Fach Chemie spannend, weil es eine komplette Sache ist und nicht nur eine Teilwissenschaft.“
„Schon in der Schule fand ich Chemie interessant. Ich hatte eine sehr nette Chemielehrerin, was oft auch ganz wichtig ist. Und ich fand das Fach spannend, weil es eine komplette Sache ist und nicht nur eine Teilwissenschaft. Mir ist die Chemie in der Schule auch leicht gefallen, und dann habe ich 1981 in Würzburg mit meinem Studium begonnen.“
Sie haben auch in den USA gearbeitet, waren in Griechenland. Aber fast Ihre ganze wissenschaftliche Karriere haben Sie hier in Tschechien verbracht. Wie ist es dazu gekommen?
„Das hat ganz einfach mit meiner Frau zu tun. Es ist ein Schema, das es bei vielen Ausländern hier in Tschechien gibt. Ich war als Postdoc in den USA und habe dort meine Frau kennengelernt. Sie ist Tschechin, und wir sind dann zusammen nach Europa zurückgegangen. Zwar haben wir es auch in Deutschland versucht, mussten aber sehr bald feststellen, dass dies 1992 – und besonders in Bayern – schwierig war für Ausländer, die sozusagen aus dem Osten kamen. Meine Frau war damals Lehrerin, und es gab für sie keine Möglichkeit, normal in Deutschland zu leben. Daher habe ich einen Habilitationsantrag gestellt für die Karlsuniversität in Prag, der zu meiner Überraschung auch durchging. So wurden mir die ersten beiden Jahre vollkommen von deutscher Seite finanziert. Den Aufenthalt konnte ich noch einmal um zwei Jahre verlängern, sodass ich erst 1997 so richtig in die tschechische Finanzierung übergegangen bin. Im selben Jahr kam mein Sohn zur Welt. Und wenn die Familie erst einmal hier ist, dann geht man auch nicht mehr weg – zumindest ich nicht.“
Haben Sie nicht doch auch überlegt, nach Deutschland zurückzukehren?
„Aber sicher, es gab diese Überlegungen. Ich hatte dazu auch Möglichkeiten. Ganz knapp war es einmal, als eine Professur in Aussicht stand. Die Kollegen aus Deutschland kamen damals hierher und wollten mich noch überzeugen. Ich fragte meine Frau, wie es denn wäre, wenn ich dort hingehen würde. Und sie sagte: ‚Dann fliegst du aber jedes Wochenende zurück.‘ Da war mir klar, dass ich das nicht mache. Ich hätte dann die Bindung zur Familie verloren, zum eigenen Sohn, der damals sechs Jahre alt war. Das wäre eine der größten Niederlagen gewesen, die einem als Vater droht, und das wollte ich nicht.“
Wie sind Sie mit der Sprache hier zurechtgekommen?
„Mein Tschechisch ist ein bisschen eigen, aber mich verseht jeder, und ich verstehe auch alles.“
„Mein Tschechisch ist ja ein bisschen eigen, aber mich verseht jeder, und ich verstehe auch alles. Und ich kann sogar rechtliche Texte lesen, obwohl ich grammatikalisch sicher nicht perfekt bin. Ich habe die Sprache mit der Zeit gelernt, allerdings nicht von meiner Frau, denn wir haben zu Hause immer Englisch gesprochen. Mein Tschechisch wurde stattdessen beim Sport besser. Ich bin ein passionierter Fußballspieler und habe mich bereits 1993 einer ganz tollen Fußballtruppe angeschlossen, mit der ich auch noch heute zusammenspiele. Es sind sehr nette und interessante Menschen. Hinzu kamen die Unterhaltungen mit meinen Schwiegereltern. Ich habe aber nie einen Kurs besucht, sondern nur ein Lehrbuch gekauft. So habe ich langsam die Sprache gelernt. Und ich kann sie auch fühlen. Eine große Gabe der Tschechen ist ja, sich zu unterhalten, ohne dabei viel aussagen zu wollen. Im Bairischen würde man sagen, dass man ‚nen Schmarrn redet‘. Das kann man im Tschechischen noch viel besser. Es ist einfach eine so klasse Sprache, um sich bei einem Bier zu entspannen und mit einem Freund einfach einen Blödsinn zu reden.“
Wenn man lange im Ausland lebt, verändert man sich ja auch. Gibt es Sachen, die Sie bei sich dennoch als typisch deutsch wahrnehmen, oder andere, die bereits tschechisch sind?
„Ganz klar verändert man sich, und ich habe mich sicher sehr stark verändert. Da geht es nicht darum, wie ich bin, sondern um bestimmte Werte und Ansprüche. Meiner Frau bin ich sehr dankbar und auch allgemein meiner Umgebung, dass ich gewisse Sachen überhaupt nicht mehr wie Deutsche sehe. In Deutschland habe ich das Gefühl, dass jeder, der eine gewisse Ausbildung und einen bestimmten Kontostand hat, der Meinung ist, dass er alles bekommen müsste, was ihm zusteht. Dass man aber eben nicht alles bekommt, was einem zusteht, und damit auch leben kann – das ist etwas, was man hier lernt. Und dazu gehört auch, dass in den 1990er Jahren die Familie, die Freunde und das Umfeld hierzulande noch stärker betont waren. Daher war es etwa für meine Frau unmöglich, woanders zu leben als in Prag. Aber das ist keine Schwäche, sondern eine Stärke, weil sie sich um ihre Eltern kümmern wollte und hier verwurzelt ist. Insgesamt habe ich hier sehr viel gelernt. Ich bin viel offener und flexibler geworden.“
Wenn Sie mal nicht eingespannt sind in Ihre wissenschaftliche Arbeit: Wobei können Sie sich am besten erholen, und haben Sie vielleicht einen bestimmten Ort in Prag oder Tschechien, den Sie besonders lieben?
„Durchaus. Ganz sicher erhole ich mich, wenn ich einfach nach der Arbeit ein Bier trinken gehe. Das mache ich auch alleine in der Wirtschaft bei mir um die Ecke, um runterzukommen. So wieder jeder Tscheche geht man erst einmal auf ein Bier und dann nach Hause. Bei mir ist das jedoch etwas schwieriger, weil ich direkt neben der Arbeit wohne und erst einmal weiter weggehen und dann zurückkommen muss. Ein anderer Zufluchtsort ist mein Wochenendhaus, nur 40 Kilometer in Richtung Süden, bei Ondřejov. Auch das Tal mit dem Bach Jevanský potok dort ist fantastisch. Ich nenne es das Tal der Freiheit, in dem viele interessante und auch verrückte Menschen leben. Dort kann man sich wirklich gut entspannen. Aber generell finde ich, dass es hier in Tschechien viele Möglichkeiten zur Erholung gibt. Und dann empfinde ich es als ein Geschenk, mit meiner Familie zusammen zu sein und mit meinem Sohn Fußball zu spielen – dass ich jemanden habe, der meinen langen Pass verwertet, ist einfach klasse.“