Goldene Bulle von Sizilien: verschlungener Weg von Přemysl zum Königstitel (2.Teil)
Die so genannte Goldbulle von Sizilien gilt als eines der ältesten schriftlichen Dokumente zur tschechischen Geschichte. 1212 wurde sie erlassen - und seitdem sehr unterschiedlich bewertet. Für die einen war sie ein Gegenstand der Anbetung, weil sie angeblich der Höhepunkt war in den Unabhängigkeitsbestrebungen der böhmischen Přemysliden vom Römischen Reich. Für die anderen war sie ein Gegenstand der Verachtung, weil die Bulle für sie das Symbol der Abhängigkeit vom deutschen Nachbarn war. Doch auch die heutigen Fachleute finden keine Übereinstimmung. Das zeigte eine Historikerkonferenz, die im vergangenen Herbst in Prag veranstaltet wurde – anlässlich des 800. Jubiläums des mittelalterlichen Dokuments.
Die sizilianische Goldene Bulle habe nicht nur eine interessante Entstehung gehabt, sondern auch ein interessantes Schicksal, das allerdings nichts mit der Bedeutung zu tun habe, die man ihr heute beimesse. Dies sagte Wihoda zur Einleitung seines Diskussionsbeitrags bei der Prager Konferenz im September. Die entscheidende Frage bezieht sich auf die Umstände, unter denen das insgesamt drei Urkunden umfassende Dokument damals in Basel erlassen wurde:
„Das Königreich Sizilien war in Wirklichkeit nicht ein Teil des Reichs. Daher muss man sich die Frage stellen: Von welcher Bedeutung waren die Dokumente und Privilegien, die von einem sizilianischen König für einen Empfänger erlassen wurden, der böhmischer König war, also das Oberhaupt eines frühmittelalterlichen Staates, der wiederum dem multinationalen Römischen Reich angehörte. Aus der rechtlicher Sicht war er auch Reichsfürst.“Der Titel, mit dem sich König Friederich II. von Sizilien in der Goldenen Bulle bezeichnete, lautete „imperator electus“ - designierter Kaiser. Wihoda erläutert die Entstehung des Wortkonstruktes:
„Diese Bezeichnung entstammte nicht aus dem Vokabular der Reichskanzlei. Sie taucht in der päpstlichen Kanzlei auf, als diese auf den Streit zwischen den Kandidaten für den römisch-deutschen Thron, Philipp von Schwaben und Otto von Braunschweig, reagieren wollte. Anfang des 13. Jahrhunderts rief Papst Innozenz III. ein Colloquium seiner Kardinäle nach Rom ein und stellte fest, dass Friedrich II. von Sizilien, Sohn des verstorbenen Kaisers Heinrich VI., von den Reichfürsten bereits als Thronfolger akzeptiert wurde. Doch die Kardinäle lehnten Friedrich wegen seines sehr jungen Alters von vier Jahren ab. In der Gunst des Papstes stand Otto IV. von Braunschweig. Er war der ´auserwählte´, also designierte König, für den die Bezeichnung ´imperator electus´ verwendet wurde.“
Otto von Braunschweig wurde 1204 sogar auch römischer Kaiser. Etwas später wandte sich Innozenz III. von ihm jedoch ab und begann sich für den damals 18-jährigen Friedrich II. einzusetzen. Auf seine Empfehlung hin machte sich der neue „imperator electus“ mit seinem Gefolge auf den Weg ins Reich und warb dort um die Stimmen der Reichsfürsten. Als einer der Ersten sicherte Přemysl dem jungen Friedrich seine Stimme zu - der böhmische Fürst wurde dafür mit einem Paket an Privilegien belohnt, die in der Goldbulle schriftlich fixiert wurden. An den drei Urkunden der Bulle fand der Historiker Wihoda eine Reihe ungewöhnlicher Merkmale:„Die Goldene Bulle weicht in vieler Hinsicht non dem damals geläufigen Stil der althergebrachten Reichskanzlei ab. In einigen Passagen aber entspricht der Text nicht einmal dem Stil der sizilianischen Kanzlei. Und das, obwohl das goldene Siegel des Königs von Sizilien beigefügt wurde und im Einklang mit dem Protokoll dieser Kanzlei stand. Auch die deutsche historische Literatur stellt seit langem fest, dass es sich hier um einen sonderbaren Typ von Urkunden handelt, und folgert daraus, sie seien in einer Übergangszeit entstanden.“
Auch Wihodas Analyse der einzelnen Formulierungen im Text sowie seiner graphischen Gestaltung gehen in der Tat bis ins Detail. Zum Beispiel behauptet er, dass zwei Urkunden der Goldenen Bulle dem Stil der päpstlichen Kanzlei entsprechen. Beim Vergleich mit der dritten Urkunde findet er wiederum Unterschiede zum Beispiel in der Reihenfolge der angeführten Zeugennamen, das Fehlen von Vornamen, eine unterschiedliche Verteilung der Zeilen, die im unteren Teil des Textes in ungewöhnlicher Weise dichter werden, und ähnliches mehr. Wihoda macht dies nachdenklich. Er fragt sich, unter welchen Bedingungen am 26. September 1212 in Basel die drei Urkunden erstellt wurden:„Haben wir es da mit einer perfekt funktionierenden Kanzlei oder aber mit improvisierten Bedingungen zu tun! Friedrich II. kommt in Basel an, um in Eile bestimmte Dokumente für irgendwelche Tschechen zu erstellen, über die er meiner Meinung nach bis dahin nichts wusste. Wie könnte es auch anders sein, wenn er zuvor sein ganzes Leben in Sizilien verbracht hatte. Der deutsche Historiker Olaf Rader merkt in seiner Monografie über Friedrich II. an, dieser sei weder ein Staufer, noch ein Deutscher, sondern ein Sizilianer auf dem Kaiserthron gewesen.“Wihoda stellt deswegen die rhetorische Frage, „ob dies von einer geplanten und gut überdachten Fertigung der Urkunden zeuge?“ Seine Antwort:
„Die Goldene Bulle kann man nicht als ein Dokument betrachten, das von standardmäßig funktionierenden und über alle Kontrollmechanismen verfügenden königlichen Kanzleien erlassen wurde. Gerade daraus ergeben sich die Dispute zwischen mir und meinem Kollegen Josef Žemlička."Es ist nicht möglich, all die Punkte, in denen die Meinungen von Martin Wihoda und Josef Žemlička auseinandergehen, an dieser Stelle zu nennen. Allein ihre Interpretation der Bulle könnte eine ganze Sendung füllen. Einen Umstand bezeichnet Wihoda sogar als Rätsel: Přemysl Ottokar I. habe nie darauf bestanden, die Goldene Bulle nachträglich von Friedrich II. bestätigen zu lassen, nachdem dieser ab Ende 1212 auch über das Siegel des römisch-deutschen Königs verfügt hatte. Dabei sollen sich die beiden ab 1213 mehrmals getroffen haben. Den Einwand, Přemysl sei wohl an der Bestätigung nicht interessiert gewesen, kontert der Historiker:
„Dann muss man sich die Frage stellen, warum sich Přemysl Ottokar so sehr nach einem weiteren Dokument sehnte, das 1216 mit der so genannten Goldbulle von Ulm versiegelt wurde, und warum sein Sohn Wenzel I. 1230 nach seiner Thronbesteigung eine Delegation zu Friedrich II. nach Italien entsandte, um sich von ihm die Legitimität seiner Herrschaft im Königreich Böhmen bestätigen zu lassen. Damals wurden zwei weitere Urkunden erlassen, die mit Friedrichs Goldener Bulle versiegelt wurden. Mit keinem einzigen Wort wurde in den Urkunden jedoch die sizilianische Goldbulle von 1212 erwähnt, es findet sich nicht einmal ein indirekter Hinweis.“Wie bewertet daher Martin Wihoda insgesamt diese Bulle? Wie viele andere Historiker hierzulande, so Wihodas persönliches Bekenntnis bei der Konferenz, sei auch er lange davon überzeugt gewesen, dass die Goldene Bulle von Sizilien ein Schlüsseldokument in der Herausbildung der tschechischen Staatlichkeit sei. Doch dann habe er einmal in „Ottos Konversationslexikon“ geblättert, das zwischen 1888 und 1909 in 28 Bänden in Prag herausgegeben wurde, und dort keine Erwähnung der sizilianischen Goldenen Bulle von 1212 gefunden. Für Wihoda etwas Unglaubliches:
„Ottos Konversationslexikon war nicht irgendeine Enzyklopädie, sondern ein Schaufenster der sich rasch modernisierenden tschechischen Nation, ein Werk, an dessen Konzept namhafte Persönlichkeiten wie zum Beispiel František Palacký beteiligt waren! Ist es überhaupt vorstellbar, habe ich mich gefragt, dass Palacký die Bedeutung der Goldbulle von Sizilien nicht entsprechend einschätzen konnte? Ich habe dann das entsprechende Kapitel in seiner ´Geschichte der tschechischen Nation in Böhmen und Mähren´ aufgeschlagen, und siehe da: Dieser Bulle widmet Palacký dort eine einzige Zeile! Das sagt doch vieles aus. Auf einmal war mir eines klar: Im 19. Jahrhundert, als um das tschechische Selbstbestimmungsrecht gerungen wurde, fiel niemandem ein, sich auf die Goldbulle von Sizilien zu berufen.“
Gerade darin sieht der Historiker zudem einen Beweis dafür, dass man die Bedeutung von historischen Ereignissen oft und gerne aus der gegenwärtigen Sicht bewertet. In diesem Sinne wurde erst im Lauf des 20. Jahrhunderts damit begonnen, die sizilianische Goldbulle als ein Maßstab setzendes Dokument für die tschechische Staatlichkeit zu sehen - aber nicht schon im Jahr 1212. Martin Wihoda folgert daraus:„Diese Attribute, nicht selten Etiketten haben uns oft daran gehindert, die wirkliche Bedeutung der Vergangenheit zu begreifen.“