„Grenztötungen“: Frühere kommunistische Politiker sollen vor Gericht

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Die noch lebenden ehemaligen führenden kommunistischen Politiker, die für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sind, sollen vor Gericht gestellt werden. Dies fordert die Europäische Plattform für Erinnern und Gedenken. Ihr internationales Projekt „Justiz 2.0“ stellte sie am Mittwoch im Europäischen Parlament und auch im tschechischen Abgeordnetenhaus vor.

Miroslav Lehký  (rechts). Foto: Martina Schneibergová
Die Europäische Plattform für Erinnern und Gedenken hat im Rahmen ihres Projektes „Justiz 2.0“ zwei Verbrechen gegen die Menschlichkeit identifiziert, für die die verantwortlichen Personen in den früheren kommunistischen Ländern nie vor Gericht gestellt wurden. Dazu der Mitarbeiter der Plattform und ehemalige Dissident Miroslav Lehký:

„Es handelt sich erstens um das Töten von Menschen am Eisernen Vorhang in der ehemaligen Tschechoslowakei in den Jahren 1948 bis 1989. Zweitens handelt es sich um die massenhafte Verfolgung, Ermordung und Deportation der türkischen Minderheit aus Bulgarien in den Jahren 1984 bis 1989. Ein internationales Team von Rechtsexperten, das mit der Plattform zusammenarbeitet, hat die strafrechtliche Verantwortung der zuständigen Personen beschrieben.“

Lubomír Štrougal  (Foto: Luděk Kovář,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Im Expertenteam der Plattform sind renommierte Juristen wie beispielsweise Albin Eser, ehemaliger Richter am internationalen Strafgerichtshof für Ex-Jugoslawien in den Haag. Am besten sei bislang die Verantwortlichkeit der kommunistischen Politiker in der Tschechoslowakei ausgewertet worden, so Lehký:

„Wir beschuldigen zwölf ehemalige führende Vertreter des kommunistischen Regimes in der früheren Tschechoslowakei der Verbrechen gegen die Menschlichkeit: von damaligen Mitgliedern aus dem Präsidium des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei bis zu Oberbefehlshabern der Grenzwache. Darunter sind der ehemalige Generalsekretär der Partei, Milouš Jakeš, der ehemalige Ministerpräsident und Innenminister Lubomír Štrougal und der ehemalige slowakische Ministerpräsident Peter Colotka. Das Zentralkomitee wusste vom Geschehen an der Grenze, es war gut darüber informiert und hielt die grausamen Grenzmaßnahmen aufrecht. Es war zudem für die Personalpolitik bei der Grenzwache verantwortlich.“

Pavel Bělobrádek  (Foto: Martina Schneibergová)
Die Plattform forderte alle demokratischen Staaten auf, sich dafür einzusetzen, dass die internationalen Verbrechen des Kommunismus verurteilt werden. Das Vorhaben der Plattform wird auch vom tschechischen Vizepremier und christdemokratischen Parteichef Pavel Bělobrádek unterstützt:

„Ohne Gerechtigkeit, ohne sich mit den eigenen Sünden auseinanderzusetzen, wird die Gesellschaft zu Rache oder Resignation tendieren. Beides ist falsch.“

Seinen Worten zufolge habe es immer noch Sinn, die verantwortlichen Personen vor Gericht zu stellen. Es könne zwar sein, dass einige aus Altersgründen nicht mehr ins Gefängnis geschickt würden, aber es müsse deutlich gesagt werden, dass sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt hätten.

Luděk Navara  (Foto: Martina Schneibergová)
Luděk Navara ist Historiker, Publizist und Schriftsteller. Er befasst sich mit den Verbrechen des Kommunismus:

„Ich glaube, dass die Chance, diese Verbrechen zu verurteilen, auf gesamteuropäischer Ebene größer ist als auf nationalstaatlicher. 2008 wandte sich eine Gruppe von Menschen einschließlich meiner selbst im Fall der Verbrechen am Eisernen Vorhang an die oberste Staatsanwaltschaft Tschechiens. Auch nach sieben Jahre wurde keine Entscheidung gefasst. Wir wissen nur, dass immer noch Beweise zusammengetragen werden. Die jetzige Präsentation kann einerseits dazu beitragen, dass auf internationaler Ebene Gerechtigkeit erreicht wird. Und andererseits, dass damit auf die Situation hierzulande aufmerksam gemacht wird. Der Druck von außen könnte zu einer Lösung beitragen.“

Installation von der tschechischen Künstlergruppe Pode Bal  (Foto: ČTK)
Kurz vor der Präsentation des Projektes „Justiz 2.0“ wurde vor dem Europäischen Parlament in Brüssel eine Installation von der tschechischen Künstlergruppe Pode Bal enthüllt. Sie stellt den Tod von Hartmut Tautz dar. Als 18-jähriger hatte er 1986 versucht, aus der DDR über die Tschechoslowakei nach Österreich zu fliehen. 22 Meter vor der österreichischen Grenze wurde der Student von Hunden der tschechoslowakischen Grenzwache zerrissen.

Die Europäische Plattform für Erinnern und Gedenken ist eine internationale NGO. Sie stellt einen Dachverband für 48 Institutionen aus 18 Ländern, die sich mit Forschungen über totalitäre Regime in Europa beschäftigen.