Hans Schreiber: Der vergessene Moorforscher aus dem Böhmerwald
Die Spuren namhafter Naturwissenschaftler zu erfassen, ist eines der Ziele des Projekts „Lebende Karte“. Lenka Ovčáčková arbeitet als Forscherin an der Prager Karlsuniversität und ist zudem Dokumentarfilmregisseurin. Martina Schneibergová hat mit der Wissenschaftlerin über die „Lebende Karte“ sowie einen der inzwischen fast vergessenen Naturforscher, Hans Schreiber, gesprochen.
Frau Ovčáčková, was verbirgt sich hinter dem Projekt „Živá mapa“ (Lebende Karte)?
„Das Projekt bezieht sich auf die topographische Geschichte der Naturwissenschaften in den Böhmischen Ländern. Wir haben an unserem Lehrstuhl für Philosophie und Geschichte der Naturwissenschaften an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Karlsuniversität Prag eine Kooperation mit dem Institut für Geoinformatik und Kartographie verwirklicht. Dabei versuchen wir, diese Geschichte der Naturwissenschaften zu thematisieren, und zwar vom Mittelalter bis zur heutigen Zeit. Wir bemühen uns, die topographischen Komponenten zu erfassen – das heißt Orte in der Landschaft festzuhalten wie Gedenktafeln, Museumsausstellungen und Lehrpfade. Wir versuchen in diesem Projekt, alles, was mit den Naturwissenschaften oder berühmten Wissenschaftlern auf diesem Gebiet verbunden ist, zu thematisieren: mit Hilfe einer Datenbank, die online in Form einer Karte auf der Projektwebseite präsentiert wird. Zudem gibt es eine Ausstellung und Apps, die man sich auf das Smartphone herunterladen und damit durch die Landschaft gehen kann. Die Naturwissenschaft verstehen wir ganz breit – von der Geologie, über die Botanik, Physik, Chemie bis zur Kartographie. Miteinbezogen werden auch Naturwissenschaften, die ein wenig am Rande stehen – wie etwa Naturphilosophie und Alchimie.“
Wird auch die Medizin miteinbezogen?
„Die Medizin gehört natürlich zu den Naturwissenschaften. Aber wir mussten das Projekt abgrenzen, sonst wäre das ausgeufert. Medizinische Themen in Verbindung zu den Naturwissenschaften kommen schon vor, jedoch nicht nur die Medizin, sondern auch die Technik.“
Kann sich auch die Öffentlichkeit am Projekt beteiligen? Wenn jemand einen Ort entdeckt, an dem ein Naturwissenschaftler gewirkt hat und der noch nicht in der Datei erfasst ist, kann er sich an Sie wenden?
„Das ist ganz wichtig für uns. Der Name des Projekts ,Lebende Karte‘ ist eng mit dieser Komponente verbunden. Wir möchten nicht nur eine interaktive Karte und eine Datenbank schaffen, in der wir persönlich in den nächsten Jahren immer wieder Informationen eingeben, sondern wir wenden uns explizit auf der Homepage des Projekts an die Öffentlichkeit. Wir fordern alle auf, uns mitzuteilen, wenn sie einen Ort finden, der in der Datei noch nicht eingetragen ist, und an dem ein anerkannter Naturforscher gewirkt hat. Dies gilt auch für diejenigen, die eine Idee haben, welche eine Persönlichkeit betrifft, der noch keine Gedenktafel oder ein Geburtshaus gewidmet ist, aber thematisiert werden sollte. Wir werden diese Informationen gern in das Projekt aufnehmen.“
Kann man sagen, dass Sie sich in Ihrer Arbeit doch ein wenig auf den Böhmerwald, beziehungsweise auf Süd- oder Südwestböhmen spezialisieren?
„Ich habe mich im Rahmen des Projektes mit mehrere Regionen beschäftigt. Aber der Böhmerwald oder Südböhmen stellen eine besondere Region für mich dar, weil ich sie in meinem Dokumentarfilm ,Tiefe Kontraste‘ künstlerisch-poetisch intensiv bearbeitet habe. Und meine Profession als Wissenschaftshistorikerin war schon damals präsent. Mich hat diese Gegend schon immer interessiert, unter anderem auch dank einem anderen Projekt, das wir an unserem Lehrstuhl haben. Es betrifft die Geschichte der deutschen Universität Prag von 1919 bis 1939. Als wir mit der ,Lebenden Karte‘ angefangen haben, wusste ich, dass der Böhmerwald mein wichtigstes Thema sein wird. Denn bei meinen Spaziergängen habe ich viele Orte entdeckt, die mit Naturwissenschaftlern zusammenhängen. Außerdem habe ich über Persönlichkeiten nachgedacht, über die man in der Landschaft oder im öffentlichen Raum gar keine Information findet. Und das war auch mein Ziel, deutschsprachige Naturwissenschaftler zu thematisieren, die das verdient haben.“
Zu bedeutenden Naturwissenschaftlern, die aus dem Böhmerwald stammten, aber nicht sehr bekannt sind, gehört zweifelsohne der europaweit anerkannte Forscher Hans Schreiber (1859–1936). War er der erste, der sich mit Moorforschungen befasste?
„Er war vielleicht nicht der erste, denn es gab schon zuvor im 19. Jahrhundert Ansätze. Beispielsweise als Ferdinand von Hochstetter (1829–1884, Anm. d. Red.) die erste geologische Kartierung des Böhmerwalds gemacht hat. Er hat wunderbare Vergleiche zwischen dem Urwald und dem Urmoor gezogen. Das Moor war schon immer ein wichtiges Thema, aber Hans Schreiber war eine ungewöhnliche Persönlichkeit, die einen sehr breiten Zugang zu den Mooren hatte.“
Woher stammte Schreiber und wo lebte er im Böhmerwald?
„Er stammte aus Wallern – heute Volary. Das hat sein Interesse für die Moorforschung vorbestimmt. In seinen Memoiren beschrieb er, dass sich damals in der Umgebung von Wallern 22 Moore befanden. Das war wahnsinnig viel. Und in die Moore zu gehen, war gar nicht so einfach. Das waren Feuchtgebiete, die gefährlich waren. Er hatte eine Vorliebe für diese Moorkunde gezeigt und hat sie wirklich weiterentwickelt. Wallern hat Schreiber bald verlassen, er ist aber auch in späteren Jahren immer wieder in den Böhmerwald zurückgefahren und hat die Moore dokumentiert. Sein Lebensweg war dann mit Prag verbunden, weil er an der Deutschen Technischen Hochschule und auch an der Deutschen Universität Prag studierte, und zwar Botanik, Physik und Geologie. Anschließend unterrichtete er kurz in Tetschen-Liebwerd. Von besonderer Bedeutung war für ihn, dass er 30 Jahre Direktor der landwirtschaftlichen Winterschule Stod – damals Staab – war. Fünf Monate lang war er als Lehrer tätig und während der restlichen sieben Monate konnte er sich auf die Moorkunde konzentrieren. Wichtig ist, anzumerken, dass er anfing, die Moore in unmittelbarer Umgebung im Böhmerwald zu dokumentieren. Ein sehr wichtiger Ort war für ihn auch der Sebastiansberg – das ist heute Hora Svatého Šebestiána im Erzgebirge. Er ist aber immer mehr durch Europa gereist, denn er wusste, dass es wichtig ist, nicht nur das zu erforschen, was zu Hause ist, sondern dass man auch über die Grenze hinaus gehen und Vergleiche in Bezug auf Europa ziehen muss.“
Gelang es ihm, seine Erkenntnisse auch international zu präsentieren und zu verbreiten?
„Wichtig für das Lebenswerk von Hans Schreiber war, dass er zum Leiter der Moorkulturstation ernannt wurde. Diese Moorkulturstation, die durch den Staat unterstützt wurde, befand sich in Sebastiansberg. Das war eine Plattform, die eine internationale Entwicklung ermöglicht hat. Im Jahr 1900 hat Schreiber den deutsch-österreichischen Moorverein gegründet – eine internationale Organisation. Schreiber hat über diesen Verein dann auch 15 Jahre lang eine Moorzeitschrift herausgegeben. In dieser wurden nicht nur Themen aus Böhmen, sondern aus ganz Europa präsentiert. Dafür stand Hans Schreiber natürlich in Kontakt mit internationalen Wissenschaftlern. Es gibt da eine ganz lustige und interessante Hintergrundgeschichte: Schreiber muss ein sehr quirliger und unternehmenslustiger Mensch gewesen sein, denn er unternahm fast alle seine Reisen mit dem Fahrrad. Es gab nur drei Orte, in die er üblicherweise mit anderen Verkehrsmitteln reiste: Die skandinavischen Länder, Norditalien und die Ostsee. Sonst, so zum Beispiel in Frankreich und Österreich, war er überall mit dem Fahrrad unterwegs.“
„Wichtig ist auch, dass Hans Schreiber nicht nur theoretisch tätig war. Die praktische Komponente der Moorforschung war für ihn von besonderer Bedeutung. Er studierte dabei die Einflüsse der anderen wissenschaftlichen Disziplinen, so zum Beispiel der Zoologie, Botanik und Geologie. Ein Schwerpunkt von Hans Schreibers Forschung war auch die Torfgewinnung und die Beschreibung von Gräsern. Er hat dann auch viele populärwissenschaftliche Vorträge über die Moore gehalten. Das war eine Tätigkeit von gesellschaftlicher Bedeutung, denn für die Flächengewinnung wurden diese damals häufig zerstört. Schreiber hat sich für den Erhalt der Ökosysteme eingesetzt.“
Vermutlich nutzt man seine Erkenntnisse dann sogar bis heute…
„Das stimmt! Ich müsste mich eigentlich mit den Moorexperten in Deutschland in Verbindung setzen, damit Schreibers Arbeiten dort noch mehr gelesen und genutzt werden. Alles wurde auf Deutsch publiziert und man kann noch heute daraus schöpfen. Dabei sind die Arbeiten nicht nur als historische Quellen nutzbar, sie enthalten auch Erkenntnisse, die für die zeitgenössische Naturwissenschaft wichtig sind. Besonders wenn es darum geht, die Ökosysteme der Moore zu erhalten.“
In einem der nächsten Kapitel aus der tschechischen Geschichte hören Sie mehr über den Naturforscher Hans Schreiber und das von ihm gegründete Böhmerwaldmuseum in Horní Planá / Oberplan.