„Ich habe noch Material für ein weiteres Leben“

Hartmut Binder (Foto: Ondřej Tomšů)

Der deutsche Germanist Hartmut Binder hat sein Leben der Prager deutschen Literatur gewidmet. Besonders gilt er als Kenner von Franz Kafka. Vor kurzem ist der Literaturprofessor in Prag mit dem sogenannten Gratias Agit geehrt worden.

Hartmut Binder  (Foto: Ondřej Tomšů)
Herr Binder, Sie sind mit dem Preis Gratias Agit geehrt worden, dem Preis des tschechischen Außenministeriums. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?

„Ich war vollkommen überrascht, weil ich den Preis nicht kannte. Ich fühle mich sehr geehrt für eine jahrzehntelange Tätigkeit in Sachen Prager Literatur am Ende der Habsburger Monarchie. Es ist eine Ermutigung weiterzumachen.“

Wie Sie jetzt gerade gesagt haben, ist die Prager Deutsche Literatur Ihr Schwerpunkt. Wie entstand Ihr Interesse für diesen Bereich der Literatur?

„Ich hatte eine Dissertation angefertigt über Franz Kafka, die natürlich Fragen offen ließ. Dann kam mir der Zufall zu Hilfe. Ich war 1966 zu einem Kafka-Kolloquium in Berlin eingeladen. Auf dieser Tagung habe ich Věra Saudková kennengelernt. Das ist eine der Töchter von Kafkas jüngster Schwester Ottla. Sie hat mich nach Prag eingeladen. Ich bin dieser Einladung noch im gleichen Jahr nachgekommen. Bei dieser Gelegenheit habe ich mich sozusagen in die Stadt verliebt. Ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht, dass so etwas möglich ist. Ich bin in einem Abstand von einigen Jahren wiedergekommen, denn in den 1970er Jahren war Archivarbeit in Prag aus politischen Gründen für mich natürlich nicht möglich.“

„Ich habe mich in Prag verliebt. Es war ein bisschen noch die alte Stadt, die man nur aus der Literatur kannte.“

„Sie haben den ersten Besuch in Prag erwähnt. Was hat Sie damals so beeindruckt?“

„Es war ein bisschen noch die alte Stadt, die man nur aus der Literatur kannte. Es gab Gaslampen, der Altstädter Ring war leer, die Schritte hallten in der Nacht, und es gab wenig Beleuchtung.“

Damals war das Interesse für Franz Kafka und die Prager deutsche Literatur hierzulande eine neue Sache. Früher war dieser Literaturbereich sozusagen verboten. Erst die Germanistik in den 1960er Jahren hat ihn entdeckt. Wie war das im Westen? War dort die Forschung in diesem Bereich schon weiter fortgeschritten?

Statthalterschloss im Prager Baumgarten  (Foto: Petr Vilgus,  CC BY 3.0)
„Weiter fortgeschritten war sie vielleicht schon. Aber sie war beeinträchtigt durch die Tatsache, dass man eben keinen Zugang zu den Prager Zeitungen hatte. Ich erinnere mich, dass ich, um die Prager Presse zu studieren, in das ehemalige Statthalterschloss im Prager Baumgarten pilgern musste. Erst dort konnte ich ein vollständiges Exemplar dieses wichtigen Publikationsorgans einsehen.“

Sie sprechen von den Zeitungen. Welche weiteren Quellen und Materialien haben Sie in den Archiven in Prag oder anderswo gefunden?

„Natürlich gibt es Briefnachlässe im Literaturarchiv. Sehr wichtig war auch das heutige Nationalarchiv. Denn man hat beim Zusammenbruch der Habsburger Monarchie 1918 die meisten Akten nicht nach Wien gegeben oder vernichtet, sodass in Prag Passakten und Polizeiakten erhalten sind, die sonst nach 30 Jahren zerstört wurden. Besonders wichtig sind die Passakten, da man für Passanträge Fotos abgeben musste. Eines dieser Fotos verblieb immer beim Passantrag. Von manchen Prager Autoren existiert nur das Foto im archivierten Passantrag.“

Wie haben Sie damals bei Ihren Forschungen in Prag die Sprachbarriere überwunden?

„Im Zentralarchiv in Prag sind Passakten und Polizeiakten erhalten, die sonst nach 30 Jahren zerstört wurden.“

„Es wurde gewissermaßen meine Faulheit belohnt. Damals in den 1960er bis 1980er Jahren sprachen alle meine möglichen Partner, ob in den Archiven oder Germanisten, so gut Deutsch, dass ich dachte, ich kann mir die Mühe des Sprachenlernens ersparen. Außerdem sind natürlich in dieser Zeitspanne um 1900 knapp die Hälfte aller Archivalien auf Deutsch verfasst. Wenn es sich um tschechische Dokumente wie Passanträge, polizeiliche Meldebögen oder Geburtsurkunden handelt, braucht man nicht viele Sprachkenntnisse, um das im Tschechischen zu verstehen.“

Franz Kafka  (Foto: Thomas Hawk via Foter.com / CC BY-NC)
Haben Sie dabei den Weg auch zu der tschechischen Literatur und Geschichte gefunden?

„Es hat mich vor allem auch das Zusammenleben von Deutschen, Tschechen und Juden interessiert. Ich habe darüber geschrieben. Dort waren mir ebenso die erhaltenen Schulakten, die sehr genau darüber Auskunft geben, welche Sprachen die Schüler sprachen, besonders nützlich. Die Forschung über dieses Zusammenleben der verschiedenen Gruppen ist bei uns im Westen zu kurz gekommen.“

Sie haben eine Dissertation über Kafka geschrieben. Sind Sie sofort Fan von ihm geworden?

„Überhaupt nicht. Es war einfach die Herausforderung, die sich aus diesen geheimnisvollen Texten für jeden Leser ergibt. Mein Weg war zu versuchen, über das soziale Umfeld weiterzukommen und zumindest einige Interpretationen auszuschließen.“

Sie widmen sich in Ihren literaturwissenschaftlichen Arbeiten sowohl der Interpretation der Werke als auch der Biografie der Autoren. Glauben Sie, dass es wichtig ist, diese beiden Seiten zu verknüpfen?

„Die soziale Umwelt des Autors eine Grundvoraussetzung der Interpretation seiner Werke ist. Das gilt auch für Kafka.“

„Auf jeden Fall. Ich finde, dass hier auch ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Ich erinnere mich, dass während meiner Studienzeit in den 1950er Jahren die Maxime galt, dass Kafka gekennzeichnet sei durch geschichtsloses Erzählen. Inzwischen hat man eingesehen, dass das ein Unsinn ist, der natürlich in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts begründet ist. Mittlerweile ist allgemein anerkannt, dass die soziale Umwelt des Autors eine Grundvoraussetzung der Interpretation ist.“

Foto: Vitalis Verlag
Sie haben zahlreiche Bücher über Autoren der Prager deutschen Literatur wie Kafka oder Meyrink geschrieben, aber auch über Prag als Stadt, wie etwa literarische Spaziergänge oder über Prager Caféhäuser und Vergnügungsstätten. Haben Sie noch Material für weitere Bücher?

„Eigentlich hab ich noch Material für ein weiteres Leben. Aber realisierbar wird nur noch das sein, was Sie zuletzt nannten. Über Prager Vergnügungsstätten habe ich noch sehr viel Material gesammelt über das hinaus, was in meinem Buch zur Sprache gekommen ist. Ich bin gerade dabei, eine sehr erweiterte Neuauflage vorzubereiten, die im Prager Vitalis Verlag erscheinen soll. In diesem Buch werden also Vergnügungsstätten, Restaurants, Weinstuben bis hin zu den Bordellen in vielen unbekannten Darstellungen zur Sprache kommen.“

Haben Sie selbst Ihre Lieblingsorte in Prag?

„Ich kann eigentlich nicht sagen, dass etwas besonders hervorstechen würde. Aber es ist schon so, dass ich mich in der Nachfolge der Prager Altstadtbewohner befinde. Für sie ist ja bekanntlich nicht die Prager Altstadt und auch nicht die Neustadt, sondern die Kleinseite das Ziel romantischer Spaziergänge gewesen.“