Tschechiens Freundin und Förderin Sabine Gruša: „Ich habe mich als Deutsche schuldgefühlt“

Sabine Gruša und Jan Lipavský

Acht Persönlichkeiten haben in diesem Jahr den Preis „Gratias Agit“ für ihre Verdienste um den guten Namen Tschechiens erhalten. Zu den Geehrten gehört auch Sabine Gruša. Die Deutsche ist Witwe des 2011 gestorbenen tschechischen Schriftstellers und früheren Botschafters in Deutschland, Jiří Gruša. Seit Jahrzehnten engagiert sie sich auch selbst für das Wohl Tschechiens und hat unter anderem den Verein der „Deutschen Freunde und Förderer der Olga Havel Stiftung“ gegründet.

Frau Gruša, herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung durch das tschechische Außenministerium. Sie sind mit unserem Land durch Ihren schon verstorbenen Mann eng verbunden, den bedeutenden tschechischen Schriftsteller, Politiker und Diplomaten Jiří Gruša. In den 1980er Jahren haben Sie ihn kennengelernt. War die Tschechoslowakei für Sie schon zuvor ein bekanntes Land? Haben Sie eine Beziehung dazu gehabt?

„Ja, ich hatte eine Beziehung, aber ich war keinesfalls eine Sudetendeutsche oder eine Heimatvertriebene. Heimatvertrieben war ich aus dem, was jetzt polnisch ist: aus dem schlesischen Bereich. Ich war vorher schon in Prag, zum ersten Mal im Jahr 1969, damals mit meinem ersten Mann, Joachim Bruss. Und so wie er war ich von dem Land fasziniert. Es hat mich wirklich überwältigt, vor allen Dingen Prag. Obwohl 1969 schon Einiges hinüber war, war es doch so etwas von einer europäischen Kulturstadt.“

An der Seite des Schriftstellers Jiří Gruša

Jiří Gruša kam in den 1980er nach Deutschland, nachdem er als Vertreter der Opposition hierzulande aus der Tschechoslowakei ausgebürgert worden war. Wie haben Sie ihn kennengelernt?

Jiří Gruša | Foto: Tschechisches Fernsehen,  ČT24

„Ich habe ihn kennengelernt, weil er mit einem Manuskript in der Tasche kam und einen Übersetzer suchte. Da Joachim Bruss damals schon ein sehr arrivierter Übersetzer war – er übersetzte Václav Havel und andere –, hat man ihn gefragt, ob er Gruša übersetzen wollte. Ich bin von Haus aus Bibliothekarin, war Leiterin der Bonner Stadtbibliothek und habe auch Rezensionen über Belletristik sowie die tschechische Literatur geschrieben. Ich habe damals Grušas ‚Fragebogen‘ sehr empfohlen. Als mein erster Mann kam und sagte, er solle Gruša übersetzen, habe ich gesagt: ‚Das mach mal bloß, der ist wirklich super.‘ Und so kam Gruša zu uns nach Hause. Es wurde immer in der Emigration gemunkelt, der Gruša habe dem Bruss die Frau genommen. Das ist alles Unsinn. Wir waren damals schon liebevoll getrennt, haben aber noch zusammengewohnt. Mein Mann und Joachim Bruss haben immer hervorragend zusammengearbeitet, zum Beispiel die ‚Briefe an Olga‘ von Havel herausgegeben. So war es.“

Was bedeutete für Sie die Wende von 1989? Ihr Mann, den Sie eigentlich als Flüchtling kennengelernt haben, wurde zum Spitzenpolitiker und Botschafter seiner früheren Heimat. Wie hat sich dadurch Ihr Leben verändert?

„Dass er zum Spitzenpolitiker wurde, war ein schmerzhaft mühevoller Weg. Er wollte das gar nicht. Wir waren rechtzeitig im Dezember in Prag. Gruša wurde andauernd in irgendwelche Theater gezogen, um etwas zu sagen. In einem Theater kam plötzlich die Nachricht, Husák sei weg von der Burg, und es kamen die Bottons mit ‚Havel na hrad‘ (Havel auf die Burg, Anm. d. Red.) heraus. Das war für mich die Stunde, in der ich dachte: Jetzt kannst du für dieses Land etwas tun. Denn ich fühlte mich als Deutsche immer in dem Land in der Schuld. Ich war eine große Verehrerin der Ersten Republik von Masaryk. Ich fand, dass das damals ein super Staat war, natürlich mit ein paar Schwächen, aber großartig. Und dann kamen die Deutschen und haben das zunichte gemacht. Das hat mich tief erschüttert. Und jetzt hatte ich plötzlich das Gefühl: Ich bin in der Situation, in der ich etwas tun und zeigen kann, dass dieses Land eben anders ist, als uns immer im Westen dargestellt wurde, auch von den Sudetendeutschen, die da ein Feindbild aufbauten. Ich wollte etwas dafür tun.“

Vertreterin Tschechiens im eigenen Land

Wie haben Sie Ihre Rolle als Ehefrau des tschechoslowakischen Botschafters in Deutschland wahrgenommen?

Sabine Gruša | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

„Dazu muss ich erstmal sagen: Gruša wollte gar kein Botschafter werden. Er fand das wunderbar, jetzt in beiden Ländern frei herumzureisen und in beiden Sprachen wieder zu schreiben. Das war das Höchste und Schönste, was ihm passieren konnte. Und dann hat Havel zweimal bei ihm angerufen und ihn gefragt: ‚Warum zum Teufel willst du jetzt nicht Botschafter werden?‘ Gruša meinte: ‚Weißt du, Vašek, ich kann jetzt doch endlich mal schreiben.‘ Dann sagte der Präsident: ‚Na ja, wir können jetzt alle nicht schreiben. Warum du?!‘ Und dann musste er das machen. In Deutschland war ich weiterhin berufstätig, habe die Stadtbibliothek weiterhin geleitet, und war trotzdem voll da. Es war natürlich etwas merkwürdig, wenn man im eigenen Land ein anderes Land vertreten soll. Aber ich habe das gerne und mit Stolz getan. Ich war stolz auf die Tschechen, vor allem auf die jüngeren Leute, die so tapfer waren. Es war wichtig zu zeigen, was das für wunderbare Menschen sind, die sich jetzt aus eigener Kraft von dem alten Regime losgerissen haben, und dass man sie unterstützen muss. Grušas Intention war auch die Versöhnung zwischen Tschechen und Deutschen, und ich konnte auf meine Art etwas dazu beitragen.“

Sie haben sich auch selbst engagiert und standen 1992 hinter der Gründung des Vereins „Deutsche Freunde und Förderer der Olga Havel Stiftung“. Was hat Sie dazu motiviert? Was war Ihr Anliegen?

„Ich habe Olga Havlová (Ehefrau von Václav Havel, Anm. d. Red.) beim Staatsbesuch von Richard von Weizsäcker 1991 noch in der alten Tschechoslowakei kennengelernt. Ich kannte natürlich Olga vom Namen her, weil die Havels alte Freunde von Gruša waren. Aber da habe ich sie kennengelernt und war sofort mit ihr gut befreundet. Wir mochten uns. Dann kam sie zwei Monate später auf einen Kurzbesuch nach Bonn. Da fragte sie mich, ob ich eine Schwesterorganisation des Výbor dobré vůle machen könnte. Denn sie hatte auch andere Schwesternorganisationen weltweit gegründet. Wir, die ‚Deutschen Freunde und Förder‘, waren nur eine unter vielen, aber lange Zeit die bedeutendste. Ich habe das gerne gemacht. Ich habe Unterstützung in Deutschland gefunden, und zwar von vielen Seiten her. Dazu gehörten auch manche aus der sudetendeutschen Ecke, die nicht revanchistisch eingestellt waren, sondern das als gute Möglichkeit sahen, zu helfen und sich als Partner zu präsentieren, mit denen man kommunizieren kann. Wir konnten die Räumlichkeiten der Botschaft nutzen, ansonsten waren wir eigenständig. Wir haben Benefizkonzerte, Lesungen, Kunstausstellungen und Galaevents gemacht. Namhafte deutsche und tschechische Künstler haben mir etwas gespendet, und ich konnte das verkaufen. Also, wir haben unglaublich viel Geld einkassiert und nach Tschechien geben können. Das war sehr schön.“

„Deutsche Freunde und Förderer der Olga Havel Stiftung“

Olga Havlová | Foto: Václav-Havel-Bibliothek

Haben Sie auch selbst bestimmen können, wie diese Gelder von der Olga-Havlová-Stiftung genutzt werden?

„Ja, das war Vorbedingung. Ich bin immer hingefahren, habe angeschaut, was sie anbieten, welche Projekte wir unterstützen können, und habe das dann dem Vorstand des Vereins übermittelt. Dann haben wir gesagt: Ja, das machen wir.“

Können Sie ein Beispiel nennen?

„Es gab etwa eine Selbsthilfegruppe, die einen alten Gutshof für ihre behinderten Kinder übernommen hat. Dort haben wir Gewächshäuser gespendet, damit sie Obst und Gemüse anbauen und verkaufen konnten. Das hat mich begeistert, weil es Eigeninitiative der Tschechen war. Darauf habe ich immer sehr geachtet, dass wir nicht als westdeutsche Wohltäter auftraten, sondern Eigeninitiativen gestützt haben. Die Würde der Empfänger musste bewahrt bleiben.“

Hat sich die Tätigkeit des Vereins inzwischen verändert? Wie sieht sie heute aus?

Wir verstehen uns als befreundeter Nachbarstaat, der gerne hilft, wo es klemmt. Wir haben selbst auch etwas davon, wenn wir sehen, wie die da arbeiten, was wir von denen als geistige Hilfe übernehmen können.“

„Ein bisschen schon. Das erste Mal haben wir überlegt, ob wir weitermachen, als Tschechien in die EU kam. Damals haben wir gesagt: Wir machen das, man kann nach wie vor gute Sachen unterstützen. Und in diesem Jahr kamen die Überlegungen wieder auf, als wir festgestellt haben, dass wir die letzte Schwesterorganisation sind. Erneut haben wir uns aber entschlossen, weiter zu machen, denn wir sind jetzt einfach auf Augenhöhe. Wir verstehen uns als befreundeter Nachbarstaat, der gerne hilft, wo es klemmt. Wir haben selbst auch etwas davon, wenn wir sehen, wie die da arbeiten, was wir von denen als geistige Hilfe übernehmen können.“

Nach dem Tod Ihres Mannes 2011 haben Sie eine zweisprachige Gesamtausgabe seiner Werke initiiert. Was hat die Arbeit daran für Sie bedeutet?

„Wir wussten nach seinem Tod: Es gibt nur ein kleines Zeitfenster, dann geraten alle schnell in Vergessenheit. Gruša war von europäischem Rang und in zwei Sprachen zu Hause. Man konnte ihn nicht nur in einer Sprache verorten. Dennoch haben wir als erstes beim Verlag Barrister & Principal eine tschechische Werkausgabe initiiert. Das ist eine gründliche akademische kritische Gesamtausgabe. Im deutschsprachigen Raum haben wir im Wieser Verlag eine deutschsprachige Ausgabe ins Leben gerufen, die ganz anders konzipiert ist. Sie ist leserfreundlich, gründlich aufgearbeitet, aber so, dass die Leser nicht mit so vielen Anmerkungen erschlagen werden. Das ist jetzt abgeschlossen.“

Zweite Heimat Brno / Brünn

Öffnen Sie heute ab und zu eines der Bücher von Jiří Gruša?

„Ich lebe mit seinen Büchern. Und ich habe immer wieder Auftritte mit seiner Werkausgabe. Jetzt fahre ich zum Beispiel zu seinem 85. Geburtstag zur Buchmesse nach Wien. Ich werde immer wieder angesprochen, etwas dazu zu sagen. Ich schreibe auch nach wie vor Rezensionen, nicht nur über ihn, sondern über neuere Menschen, die sich mit der Tschechischen Republik beschäftigen. Und dann fördere ich Schriftsteller in Tschechien oder im Ausland, die tschechische Wurzeln haben. Das mache ich mit Liebe, manchmal auch aus eigener Tasche, damit es ihnen gut geht.“

Welche Beziehung haben Sie heute zur Tschechischen Republik? Besuchen Sie das Land, fühlen Sie sich mit ihm verknüpft?

Foto: Klára Stejskalová,  Radio Prague International

„Ich lebe jetzt in Berlin, aber meine zweite Heimat sind Wien und Brünn – aber nicht Prag. In Prag habe ich zwar jetzt beide Ehemänner in Urnen liegen, die ich besuche, aber das ist dann auch schon alles. Denn Prag hat Gruša nicht sehr gut aufgenommen, nachdem er zurückkam aus seinem Ausgebürgertsein. Aber Brünn hat ihn wirklich voll aufgenommen. In Brünn ist sein Literaturarchiv entstanden, mit Werken der Dissidenten, und das Haus, in dem das Archiv ist, heißt Jiří-Gruša-Haus. Ich bin dort oft und gebe ihnen hin und wieder etwas, was ich finde. Dort werden kleine Ausstellungen gemacht. Brünn hat mich und meinen Mann so herzlich aufgenommen. Als er gestorben war, schrieben mir zu Weihnachten die Menschen, die dort lebten, mit ihm befreundet waren und alle jünger waren: ‚Es grüßen dich Deine Brünner Kinder.‘ Das war wirklich rührend. Ich fahre also sehr gerne dort hin.“

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