Imaginierte Möglichkeiten - Peter Härtling und die Heimat Mähren

Peter Härtling, foto: Christoph Peter, CC BY 3.0 Unported

Der Schriftsteller Peter Härtling war in den letzten Tagen als erster Residenzstipendiat aus Deutschland zu Gast am Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren. Für den 74-Jährigen war es keine Fahrt in die Fremde – er hat seine Kindheit in den böhmischen Ländern verbracht, in Brünn und Olmütz. Thomas Kirschner hat Peter Härtling getroffen.

Peter Härtling,  foto: Christoph Peter,  CC BY 3.0 Unported
„Als ich nach vierzig, fünfzig Jahren nach Olmütz wiederkam, bin ich in die Stadt gegangen und habe alles wieder gefunden. Es war wie ein Gang, den ich nach Jahrzehnten selbstverständlich wiederholte.“

Die eigene Kindheit ist für Peter Härtling stets präsent geblieben – vielleicht ist er deshalb einer der wenigen Autoren, der es versteht, für Kinder wie auch für Erwachsene zu schreiben. Geboren wurde er 1933 in Chemnitz, die prägenden Eindrücke hat er aber in Mähren empfangen, in Brünn und in Olmütz, in der Heimat des Vaters, in die die Familie in den vierziger Jahren zurückgekehrt war. Und auch durch das heutige Prag schimmert für Härtling noch die Erinnerung an das eigene, das vergangene Prag:

Gerade Brünn, die mährische Metropole, hat tiefe Spuren in Härtlings Werk hinterlassen. Ruth und Lea, die große und die kleine Schwester, der seltsame alte John oder Tante Tilli – immer wieder wurzeln die Figuren in Härtlings Büchern im Brünner Boden. „Nachgetragene Liebe“ nennt Härtling seine Suche nach dem fremd gebliebenen Vater, Liebe aber trägt er darin auch dem mährischen Brünn nach.

„Brünn ist nach Dresden, wo Mutters Eltern leben, die zweite Stadt, die ich erkunde. Und es ist die Stadt, die in meinem Kopf zum Inbild aller Städte wird, auch später durch keine andere ersetzt worden ist, mit ihren von Kinderaugen geweiteten Plätzen und Parks standhält gegen Prag, Wien, Paris oder London, aufgebaut ist aus Staunen und Neugier.“ (aus dem Buch "Nachgetragene Liebe")

„Bei der ersten Fahrt, die ich mit meiner Mutter nach Brünn angetreten habe, war ich drei Jahre alt. Und Brünn war für mich – neben Dresden im übrigen – diese große Stadt, die mit ihren für Kinder rätselhaften Einzelheiten unglaublich anziehend war: der Spielberg, der Brünner Drache im Rathausdurchgang, auch wenn es eigentlich nur ein Krokodil war, der Krautmarkt, die Schwarzen Felder, wo mein Onkel Beppo wohnte – das waren alles Eindrücke, die für ein Kind märchenhaft waren… reich…“

„Die Bilder ordnen sich zu einem Album ´Stadt´: Der Augarten und die Straße an der jenes schäbige Haus steht, aus dessen Kellerfenster eine Oblatenbäckerei Mandel- und Honigduft aussendet...“ (aus dem Buch "Nachgetragene Liebe")

Brünn
„Wenn man die Straße herunterkam, wo meine Großmutter wohnte – Am Bergl – und diese Straße weiterging, da war der Park und eine Zeile mit großen Mietshäusern. Und in einem dieser Mietshäuser, da war diese Oblatenbäckerei. Und ich war süchtig nach diesem Duft!“

„Ich wandere vom Kaffee-Meinl zum Markt, zum Rathaus und erfinde alle die wahren Geschichten, weshalb in den Arkaden von der Decke ein Wagenrad und ein schuppiger Drache hängen; ich drängle mich zwischen den sonntäglich gekleideten Leuten, die auf dem weiten Platz vor dem ´Deutschen Haus´ dem Konzert zuhören und reise dann mit der Straßenbahn zur Großmutter.“ (aus dem Buch "Nachgetragene Liebe")

Peter Härtling
„Ich frage mich, warum der Vater das Haus, in dem er, noch im Schatten der großen Kirche, seine Kindheit zugebracht hatte, je verließ, denn es gleicht, von Efeu zugewachsen, einer Märchenburg, und immer habe ich, nach aufregenden Um- und Irrwegen, eine der drei Wohnungen zum Ziel, vielleicht auch ihre Bewohner, die mich, weil sie sich in nichts ähneln, anziehen und einschüchtern.“

„Ich habe in Brünn – erstaunlicherweise in der Stadt, in der es Menschen gab, die ich sehr geliebt habe – nichts wiedergefunden. Olmütz war dagegen für mich der Spielraum, und ein spielendes Kind vergisst den Raum nicht, in dem es gespielt hat. Auf diese Weise habe ich mir das erklärt. Es hat auch keinen Sinn, Heimatgefühle in sich zu erwecken. Es sind Gefühle der Wiederkehr, des Wiedersehen, der Wiederentdeckung. Olmütz und Brünn sind für mich, wenn man so will, Anfänge von Heimat, die ich nicht mehr habe.“

"Melancholie entsteht nicht, wenn man, wie ich etwa in Olmütz, etwas wiederfindet. Melancholie entsteht, wenn man Umgebung, die einem vertraut war, abfragt nach dem, was einem vertraut war. Das tue ich ganz selten – allenfalls, indem ich es erzählend wiederherstelle. Für mich ist es immer da. Ich habe beispielsweise das Haus am Brünner Domberg, in dem meine Großeltern gewohnt haben, nicht wieder erkannt. Das war zu lange her. Bis mir jemand sagte: Das muss es gewesen sein. Da sagte ich: ja, das muss es gewesen sein.“

„Großmutter und Tante Käthe sind eine von zwölf Parteien in einem fünfstöckigen Haus, das mit seinem reich dekoriertem Treppenaufgang mir wie ein Palast vorkommt, hinter dessen mit Spionen versehenen schweren Holztüren gutmütige Hexen wohnen, wie Madame Longe, oder frühzeitig gealterte, über eine Batterie von Schminktöpfen gebietende Primadonnen wie ´Tante Tilly´. Sie bilden Großmutters Hofstaat, treffen sich zum Kaffee, zum Tee, ich habe sie auf beide Wangen zu küssen und merke, wie unterschiedlich Puder und Rouge schmecken, lege mich auf den schönen weichen Teppich in Tante Käthes Zimmer und lese und höre ihren Gesprächen zu.“ (aus dem Buch "Nachgetragene Liebe")

Brünn
„Es war der Familienort, der, wenn man so will, durch Menschen besetzte Ort. In Brünn hat es Menschen gegeben, die nicht nur die Stadt repräsentierten, sondern für mich auch neue Erfahrung, anderes Verhalten, auch Reglementierung – mein Onkel Beppo reglementierte mich ständig. aber er hatte zugleich auch märchenhafte Züge: Er malte auf Elfenbeinblätter französische Kokotten und Rehe oder er setzte ungemein furchtbare Liköre an, die ganz farbig wurden oder er ging jagen oder fischen mit seinem Freund Waldhans. Er hasste die Deutschen, er hasste Präsident Hácha – es war ein putzlebendiger, eigentümlicher und schwieriger Mensch, der mich reizte. Kinder werden ja oft durch antipodische Erscheinungen angezogen. Und wenn er sagte: jetzt setzten wir uns vors Grammophon, dann saßen wir da und hörten Platten von Smetana, Dvořák, Janáček. Und das war für mich auch eine Erziehung.“

Ist es deshalb so, dass Menschen, Figuren, denen Sie als Autor beim Schreiben nahe kommen wollen, häufig aus Brünn kommen – so wie Ruth und Lea, der alte John oder Tante Tilli?

„Das ist wahr. Brünn ist besetzt mit Menschen, die meine Kinderaugen gesehen habe, und die immer wieder auftauchen, wenn ich eigenartige, eigenwillige, eigenwüchsige Personen zu beschreiben versuche. Beinahe gesetzmäßig, würde ich sagen. Ich imaginiere Möglichkeiten. Für mich ist Brünn eine der Möglichkeiten meiner Vergangenheit. Ein erlebter und gelebter Konjunktiv.“