Ist die Bibel in der heutigen Zeit noch ein ‚praktisches’ Buch?

Der Abend in der Kneipe war lang geworden. Als ich mich am vergangenen Samstagvormittag auf den Weg zur Arbeit machte, war ich daher spät dran und… ich muss es zugeben… etwas indisponiert. Das kommt natürlich sonst nie vor, aber… Nun ja, ich ging also zur Metro-Station, da sah ich die beiden schon von weitem: der eine um die 15, der andere vielleicht 13 Jahre alt. Typische Teenager mit Frisuren, die unter ihren Altersgenossen wohl als „cool“ gelten: ein mit Gel sorgfältig konservierter Gerade-aufgestanden-Look mit verwegen in die Stirn fallenden Strähnen.

Meine Aufmerksamkeit erregten die beiden allerdings, weil hier etwas nicht ins Bild passte: Schicke und ganz sicher teure schwarze Anzüge, dazu Trenchcoats, die Bogart alle Ehre machten. Nur muss man einen solchen Aufzug auch zu tragen wissen. Mit hängenden Schultern und wippendem Gang hätten die beiden genauso gut in Jutesäcken auf die Straße gehen können. In meinem Kopf begann es zu rattern: „Wo haben sie bloß die Klamotten her? Wo wollen sie damit hin oder woher kommen sie? Und überhaupt: Was sind denn das für Vögel?“

Foto: andrekaw / Stock.XCHNG
Als wir uns auf gleicher Höhe begegneten, suchte der ältere der beiden meinen Blickkontakt. Etwas nervös und unbeholfen. Dann fasste er sich ein Herz: „Guten Tag, dürfte ich Sie vielleicht fragen, ob Sie glauben, dass in der heutigen Zeit die Bibel noch ein praktisches Buch sein könnte?“

Aha, daher wehte der Wind. „Kinder sind kleine Missionare, die das Evangelium in die nächste Generation tragen.“ So hat das mal Papst Benedikt XVI. gesagt. Er sprach allerdings über Sternsinger. Das hier war eine andere Nummer. Ich erinnerte mich an die regelmäßigen unangenehmen Begegnungen in deutschen Fußgängerzonen mit fesch gekleideten amerikanischen Mittzwanzigern, die es wieder und wieder geschafft hatten mir Diskussionen über den Glauben aufzuzwingen. Das endete immer mit einer großen Enttäuschung. Sie spulten dann ihre auswendig gelernte Missionsstrategie runter und ignorierten meine Impulse. Hier in Tschechien aber kann ich auf meine Allzwecklüge gegen Fundraiser, Schnorrer und Missionare vertrauen. Reflexartig schoss es aus mir heraus: „Ich spreche nur ganz schlecht Tschechisch.“ Der jüngere der beiden Kerle holte schon Luft, aber ich kam ihm mit „Ich muss zur Arbeit“ zuvor. Und weg war ich.

Ich enterte die nächste Backstube, gönnte mir einen Kaffe zum Mitnehmen und fühlte die Lebensgeister erwachen. „Ist die Bibel in der heutigen Zeit noch ein ‚praktisches’ Buch? In Tschechien, dem angeblich atheistischsten Land Europas? Und vor allem: Die waren so verdammt jung!“ Das hätte vielleicht ganz interessant sein können, dachte ich und machte kehrt. Die beiden Teenager aber waren nicht mehr auffindbar. Nun muss ich aber wirklich zur Arbeit, fiel mir ein. Die Gelegenheit zu einer soziologischen Feldstudie hatte ich verpasst. Und ein Thema für mein Feuilleton ist mir auch durch die Lappen gegangen.