Ja, 1968 war ein Schicksalsjahr

Foto: National Archives, Wikimedia Commons, Public Domain

Der DDR-Bürger Olaf Tischler lebte 1968 nahe Dresden.

Foto: National Archives,  Wikimedia Commons,  Public Domain
Ich war damals 14 Jahre alt und wohnte in einer Kleinstadt etwa 40 Km nördlich von Dresden, unmittelbar an der Autobahn nach Berlin. Wir lagen damit gerade noch in terrestrischer Reichweite der Westberliner Fernseh- und Rundfunksender. Dort erfuhr ich zusammen mit meinen Eltern – meine Mutter stammte aus Aussig (Ústí nad Labem, Anm. d. Red.) – die Nachricht über den Einmarsch der Russen in die ČSSR. Ich hatte bis dahin begeistert und voller Hoffnung die Entwicklung des „Prager Frühlings“ verfolgt und diese bei gegenseitigen Besuchen mit unseren Bekannten aus Ústí nad Labem geteilt.

Am Abend davor hörten wir lautes Dröhnen von der Autobahn und ich fuhr daraufhin im Dunklen mit dem Fahrrad auf die nahe Autobahnüberführung. Dort stand ich mit einer Hand voll Leute und sah auf die gesperrte Fahrbahn hinab, auf der in schwachem Scheinwerferlicht und in Betonstaub gehüllt einen endlose Kolonne russischer Panzer in Richtung Dresden fuhr. Ich stand dort sehr lange und blickte auf die nicht endend wollende Lichterschlange, die gespenstisch aus der Staubwolke auftauchte und schnell darin wieder verschwand.

Foto: National Archives,  Wikimedia Commons,  Public Domain
Ich erinnere mich sehr genau, wie ich als „letzter“ stiller Beobachter am Straßenrand noch nach einem Stein suchte, den ich dann von der Brücke aus auf einen Panzer warf, bevor auch ich in einem Gefühl aus Wut und Ohnmacht, aber auch ängstlich nach Hause fuhr. Am nächsten Vormittag war es stiller geworden als ich – inzwischen im Fernsehen die Nachrichten vom „Einmarsch“ verfolgt – noch mal hoch zur Autobahnbrücke radelte. Nun im hellen Tageslicht war die westliche Spur immer noch gesperrt. Jetzt fuhr hier eine endlose Kolonne mit Militär-LKW.

Besonders in Erinnerung sind mir die Bilder von Möbeln und Frauen auf den offenen Ladeflächen geblieben, die vom Betonstaub wie mit Reif weiß überzogen waren. Der von den nächtlichen Panzern stammend Fahrbahnabrieb bedeckte nicht nur die Fahrzeuge und die Fahrbahn, sondern auch meterweit das angrenzende Weideland.

Breschnew  (Quelle: Public Domain)
Die in den darauf folgenden Tagen im Westfernsehen gezeigten Bilder waren für ich mich sehr beeindruckend. Besonders haben sich Filmstreifen eingeprägt, auf denen der verzweifelte Widerstand der Tschechen gegen die Panzer gezeigt wurde. Die auf russische Panzer gemalten Protestlosungen und historische Vergleiche wie „Hakenkreuz 1938 - 1968 Sowjetstern“ oder „1938 Hitler – 1968 Breschnew“ haben mir die tiefe Verzweiflung der Menschen deutlich gemacht und schockiert.

Diese Aufnahmen sind heute wohl aus Gründen der „political correctness“ in den Filmarchiven verschwunden, zumindest im Netz nicht mehr zu finden. Oder sollte mich mein Gedächtnis hier tatsächlich im Stich lassen? Die Auswirkungen haben das Leben von Millionen Menschen im Osten für Jahrzehnte geprägt und viel Hoffnung zerstört. Leider habe ich heute wieder oft das Gefühl, dass die mit der Wende gewonnene Freiheit nicht genügend gewürdigt und teilweise durch egoistisch-nationale Politik aufs Spiel gesetzt wird.