Jan Šrámek – der Meister des politischen Kompromisses
Er gehörte zu den einflussreichsten Politikern der Ersten Tschechoslowakischen Republik, war Minister in vielen Regierungen. Dennoch wird er nur selten in eine Reihe mit Persönlichkeiten wie Tomáš Garrigue Masaryk oder Edvard Beneš gestellt. Die Rede ist von Monsignore Jan Šrámek, dem Vorsitzenden der katholischen Tschechoslowakischen Volkspartei. Mehr über die Person Šrámeks nun in einer neuen Ausgabe unseres Geschichtskapitels.
Jan Šrámek wurde bald zur führenden Figur des politischen Katholizismus in Böhmen und Mähren. Nach dem Ende der k. u k. Monarchie und der Gründung der Tschechoslowakischen Republik im Jahr 1918 vereinte Šrámek alle katholischen Gruppierungen im Rahmen der Tschechoslowakischen Volkspartei. Die Partei schaffte es an den meisten Regierungen beteiligt zu sein. Šrámek selber gehörte übrigens als Minister allen Kabinetten der Jahre 1921 bis 1939 an. Das Spektrum der Ressorts, welche Šrámek zu verantworten hatte, war sehr breit. Es reichte vom Ministerium für öffentliche Gesundheit, über die Ministerien für Eisenbahnen oder soziale Angelegenheiten bis hin zum Ministerium für Post und Telegrafiewesen.
Obwohl Šrámek als Meister des politischen Kompromisses galt und zu den wichtigsten Politikern der Ersten Republik gehörte, steht er dennoch ein wenig abseits des allgemeinen Interesses - jedenfalls im Vergleich zu anderen politischen Persönlichkeiten. Warum eigentlich? Darüber unterhielten wir uns mit dem Historiker Michal Pehr vom Masaryk-Institut der Akademie der Wissenschaften:
„Es stimmt, dass Šrámek besonders aus heutiger Sicht im Hintergrund zu stehen schien. Im Grunde genommen entspricht das aber genau jener Rolle, die Šrámek im innenpolitischen Leben der Tschechoslowakischen Republik der Jahre 1918 bis 1938 spielte, nämlich, dass er vorwiegend im Hintergrund die Fäden zog. Ansonsten lässt sich jene Politik, welche Šrámek verkörperte, als eine typische Politik der Mitte bezeichnen. Das bedeutet auch zwangsläufig, dass man zwar von den Parteien auf dem rechten und linken Flügel als Partner für Koalitionen gebraucht wird, vom gemeinen Volk aber wegen der häufigen Kompromissbereitschaft und des Fehlens von klaren Kanten aber nicht besonders geschätzt wird. Diese Haltung der Öffentlichkeit Šrámek gegenüber als einem typischen Vertreter der politischen Mitte hat den damaligen Diskurs beherrscht.“
Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte Šrámek paradoxerweise in einer für das Land außergewöhnlichen Situation. Nach der Abtretung des Sudetengebietes in Folge des Münchener Abkommens vom September 1938 wurde er Vorsitzender der tschechoslowakischen Exilregierung in London. Auch da stand er allerdings im Schatten anderer Exilpolitiker – nicht nur von Präsident Edvard Beneš oder Außenminister Jan Masaryk, sondern auch von anderen - zum Beispiel von Hubert Ripka. Warum das so war, erklärt im Folgenden der Historiker Michal Pehr:
„Es steht außer Zweifel, dass Šrámeks Wirken an der Spitze der Exilregierung in London den Glanzpunkt seiner langen politischen Karriere bildet. Eine Erklärung, warum er dennoch nicht zu den führenden Figuren des Exils gehörte, liegt darin, dass er kein Englisch sprach. Damit war sein Aktionsradius sehr eingeschränkt. Er verfügte allerdings über ausgezeichnete Kontakte zu Vertretern der französischen Regierung, was unmittelbar nach München wie auch nach der Besetzung Böhmens und Mährens durch die Nazis im März 1939 von großer Wichtigkeit war. Beneš war nämlich bei den Franzosen unbeliebt, aber dank des Wirkens Šrámeks hat Paris Benešs Exilregierung gleich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs anerkannt und die Errichtung einer tschechoslowakischen Militäreinheit auf französischem Territorium erlaubt. Zum anderen war er als Vorsitzender der Exilregierung im Stande, verschiedene Antagonismen in ihrem Inneren auszugleichen. Man darf nicht vergessen, dass in London verschiedene Gruppen und Fraktionen wirkten, die sich gegenseitig bekämpften und diese Zwietracht innerhalb der Exilrepräsentanz ein großes Problem war, das oft vergessen wird.“
Der Fall der österreichisch-ungarischen Monarchie im Jahr 1918 stellte für die meisten Katholiken in Böhmen, Mähren und Schlesien einen tiefen Einschnitt dar. Die neuen politischen und gesellschaftlichen Eliten der Ersten Republik waren um eine radikale Abkehr von allen Symbolen bemüht, die als Stütze der einstigen Monarchie und ihres Herrscherhauses galten. Dazu zählte auch die offizielle katholische Kirche, die allerdings lange zögerte, bis sie die neuen Wirklichkeiten akzeptierte. Dementsprechenden weitgehend politisch isoliert war in den ersten Jahren der Republik auch Šrámeks katholische Volkspartei. Dennoch etablierte sie sich in den Folgejahren zu einem wichtigen Machtfaktor in der tschechoslowakischen Politik. Lässt sich also behaupten, dass Jan Šrámek die Katholiken mit der Republik versöhnt hat? Dazu der Historiker Michal Pehr:„Ja. Es ist zweifellos das Verdienst Šrámeks, dass der politische Katholizismus in der Tschechoslowakischen Republik seinen Platz fand. Die Katholiken hatten unmittelbar nach der Gründung der Republik einen sehr schweren Stand, was mit dem Ende der katholischen habsburgischen Monarchie zusammenhing. Die neue Republik proklamierte die Trennung von Kirche und Staat; zudem trennte sich der modernistische Flügel von der katholischen Kirche, aus dem sich später die Hussitische Kirche entwickelte. Šrámek gelang es, dass die Existenz der neuen Republik nicht nur von den katholischen Politikern, sondern weitgehend auch vom Klerus akzeptiert wurde. Das Gleiche lässt sich auch in umgekehrter Richtung sagen, nämlich, dass die Republik die Bedeutung der Kirche und des politischen Katholizismus als solchen anerkannte.“Šrámek war nicht der einzige Geistliche, der in der Politik der Ersten Tschechoslowakischen Republik eine wichtige Rolle spielte. Die zweite wichtige Figur war der Führer der slowakischen Volkspartei Andrej Hlinka, der – zum Missfallen vieler tschechischer Politiker - in den Folgejahren immer stärker für eine Autonomie der Slowakei eintrat. Wie war das Verhältnis Šrámek und Hlinkas?
„Diese Beziehung hat sich im Verlauf der Jahre entwickelt. Man muss zwischen der persönlichen und der politischen Ebene unterscheiden. Anfangs war das Verhältnis der beiden Politiker relativ positiv. Es ist zum Beispiel wenig bekannt, dass noch zu Zeiten der Monarchie, als Hlinka seitens der damaligen ungarischen Behörden starkem Druck ausgesetzt war, ihm von Šrámek angeboten wurde nach Mähren zu übersiedeln und von dort aus politisch zu wirken. Bei den ersten Parlamentswahlen nach Gründung der Republik kandidierten beide Volksparteien – die tschechische, von Šrámek angeführte und Hlinkas slowakische Partei auf einer gemeinsamen Liste zum Parlament. Problematisch wurde das Verhältnis nach 1925, als Šrámek seine Partei auch auf die Slowakei ausweitete, was natürlich von Hlinka als Affront empfunden wurde. Das ist in einer Reihe von persönlichen Briefen dokumentiert, die beide Politiker im Laufe der Jahre austauschten. Dennoch bezogen beide nie in aller Öffentlichkeit gegeneinander Stellung.“
Nach der kommunistischen Machtübernahme am 25. Februar 1948 versuchte Šrámek das Land zu verlassen, was aber missglückte. Das erhoffte kleine Flugzeug, welches den Politiker ins Exil nach Frankreich bringen sollte, kam am Flughafen unweit der mittelböhmischen Stadt Rakovník nie an. Stattdessen wurde Šrámek verhaftet. Es ist aber dennoch erstaunlich, dass gegen ihn zum Beispiel keine öffentliche Kampagne geführt wurde, wie das bei den anderen bürgerlichen Politikern der Fall war. Abschließend kommt noch einmal der Historiker Michal Pehr vom Masaryk-Institut der Akademie der Wissenschaften zu Wort:„Šrámeks Schicksal nach dem Februar 1948 ist ziemlich ungewöhnlich. Er versuchte tatsächlich im März 1948 aus dem Land zu fliehen, was jedoch scheiterte. Danach wurde er interniert. Nach einer Generalamnestie, welche der neu gewählte kommunistische Präsident Klement Gottwald nach seiner Wahl erließ, konnte sich Šrámek praktisch aussuchen, wo er seinen Lebensabend in einer Art Hausarrest verbringen will. Er entschied sich nach Brünn zu gehen und lebte bei den Ordensschwestern der Heiligen Kyrill und Method in einem Kloster. Interessanterweise wurde Šrámek in einem der vielen kommunistischen Schauprozesse nie vor Gericht gestellt und verurteilt. Angeblich ging dies auf eine direkte Weisung Gottwalds zurück, da sich Šrámek in der Vergangenheit um die Arbeiterschaft verdient gemacht habe. Anders war es aber um die Bewertung des politischen Wirkens von Jan Šrámek bestellt, wo ihn die Propaganda als einen so genannten Reaktionär darstellte. Oder man versuchte den Namen Šrámek aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Als der bereits schwer kranke Šrámek 1956 ins Prager Krankenhaus Bulovka eingeliefert wurde, wurden ihm falsche Papiere ausgestellt. Sein richtiger Name taucht dann erst wieder in der Todesurkunde des Politikers auf.“