Jitka Jílková – 20 Jahre mit dem Prager Theaterfestival deutscher Sprache
Seit zwanzig Jahren ist es ein fester Bestandteil im herbstlichen Kulturprogramm der tschechischen Hauptstadt – das Prager Theaterfestival deutscher Sprache. Radio Prag hat anlässlich des Jubiläums die Festivaldirektorin, Jitka Jílková, vor das Mikrophon gebeten. Dabei wird bilanziert und zurückgeblickt.
„Normalerweise nehmen wir Zahlen nicht sehr ernst und sind nicht der Meinung, dass sie das Kulturgeschehen groß beeinflussen sollten. Nichtsdestotrotz ist die 20. Ausgabe schon ein Grund zum Bilanzieren. Und auch zum Staunen, dass die Zeit so schnell vergangen ist. Für mich ist am erstaunlichsten die Menge von Menschen, mit denen wir während der ganzen Zeit zusammengearbeitet haben, die uns geholfen haben, die mit wunderbaren Leistungen in Prag aufgetreten sind. Was mir Leid tut, ist die traurige Tatsache, dass man sich nicht bei allen bedanken kann, weil es einfach endlos wäre. Außerdem ist das Jubiläum wahrscheinlich auch ein Grund etwas stolz zu sein, dass man durchgehalten hat. Und es ist auch ein großer Grund zur Freude über das Publikum, das uns die ganze Zeit treu geblieben ist und das eigentlich immer zahlreicher ins Theater kommt.“
„Der Anfang war ein bisschen wie ein Märchen.“
Können Sie sich an die Geburtsstunde, an den Anfang des Festivals erinnern? Wie wurde die Idee geboren, das Festival zu gründen? Wie lange dauerte es, bis der erste Jahrgang zustande kommen konnte?
„Bei der eigentlichen Geburt dieser Idee war ich noch nicht dabei. Das war eine Idee von Pavel Kohout und Renáta Vatková. Es war eine Idee, die aus dem ursprünglichen Plan, eine ständige deutschsprachige Bühne in Prag zu gründen, entstanden war. Diese Idee ließ sich nicht so leicht in die Praxis umsetzten, wie man sich gewünscht hätte. Deswegen hat sich daraus die Idee des Festivals entwickelt. Wie es dann zu der ersten Ausgabe gekommen ist, weiß ich bereits. Das habe ich von Anfang an miterlebt. Man muss sagen, dass der Start eigentlich sehr glatt verlief. Das war ja in den 1990er Jahren, genau genommen im Jahr 1996, und damals wurde die Kulturstiftung der Deutschen Bank gegründet. Diese Stiftung interessierte sich für internationale Projekte, und dafür war das Festival wie geschaffen. Deswegen hat die Kulturstiftung auch gleich gesagt, wir finanzieren alles, egal, was es kostet. Das ist etwas, was man sich heute absolut nicht mehr vorstellen kann. Es war ein bisschen wie ein Märchen. Und positiv waren auch die Reaktionen der eingeladenen Theater. Sie alle wollten mit ihren besten Aufführungen nach Prag kommen und haben eigentlich sehr gerne an dem Festival teilgenommen.“
Damals war das wahrscheinlich mehr als heute auch eine politische Sache. Es war die Zeit der Annäherung zwischen Tschechien und Deutschland, die Zeit, in der die tschechisch-deutsche Versöhnungserklärung zunächst vorbereitet und dann unterzeichnet wurde. Das hat wahrscheinlich alles auch geholfen, um das Festival realisieren zu können.„Auf jeden Fall. Die politische Lage war damals für das Festival sehr günstig. Sehr wichtig war damals auch, das Prager beziehungsweise das tschechische Publikum für das deutschsprachige Theater zu begeistern. Denn es gab zu der Zeit sehr viele Vorurteile: Die deutschsprachige Kultur wurde hierzulande immer noch als die Kultur der DDR verstanden. Dieser Kultur wiederum war streng zensiert worden, bis sie überhaupt zu uns durchgedrungen ist. Deswegen war es am Anfang nicht ganz einfach, das Publikum zu überzeugen, dass man im deutschsprachigen Theater auch Spaß haben kann.“
„Ganz stolz sind wir auf die Studenten, auf das junge Publikum, und auch auf die Theaterleute, die immer häufiger zu unserem Festival kommen.“
Wer ist eigentlich dieses Publikum? Sind es Deutschsprachige, die in Prag leben, oder Tschechen? In den zwanzig Jahren ist wahrscheinlich schon eine neue Zuschauergeneration herangewachsen?
„Das auf jeden Fall. Viele unserer heutigen Zuschauer sind zum Beispiel Redakteure des Tschechischen Rundfunks, und das sind Leute, die als Gymnasiasten zum ersten Mal zum Festival gekommen sind. Natürlich bilden Studenten einen großen Teil unserer Zuschauer. Aber es sind auch die in Prag lebenden Ausländer; Deutsche, Österreicher und Schweizer. Diese wechseln aber, sie bleiben nicht so lange in Prag. Wenn sie hier sind, kommen sie sozusagen automatisch zum Festival, weil sie sonst kein Sprechtheater in Prag genießen können. Aber ganz stolz sind wir natürlich auf die Studenten, auf das junge Publikum, und auch auf die Theaterleute, die immer häufiger zu unserem Festival kommen.“
Am Anfang wurden alle Vorstellungen simultan übersetzt. Inzwischen sind sie in der Regel mit tschechischen Übertiteln versehen. Das hat wahrscheinlich auch für größeren Zuspruch gesorgt?„Das will ich hoffen. Es war vor allem der Wunsch der deutschsprachigen Theater, die Kopfhörer einfach nicht besonders mögen. Sie haben uns gebeten, mit Übertitelung zu arbeiten. Ich glaube, es hat sehr viele Vorteile. Andererseits beurteilen die Zuschauer die Übersetzungsleistung nun etwas strenger, weil das Geschriebene länger als das gesprochene Wort im Gedächtnis bleibt. Das heißt, die Übertitelung ist gefährlicher, aber wir haben eine wunderbare Kollegin. Sie ist eine Meisterin im Übertiteln, und ich glaube, dass wir da unser Bestes geben. Einen Nachteil hat diese Praxis jedoch: Als wir noch mit Kopfhörern gearbeitet haben, hatten wir einen Überblick, wie viele Tschechen und wie viele Deutsche ins Theater kommen. Damals waren es etwa 60 Prozent Tschechen und 40 Prozent Deutsche. Ich glaube, das Verhältnis hat sich weiter verändert, dass inzwischen 70 bis 80 Prozent tschechischsprachige Zuschauer kommen. Belegen können wir das aber nicht.“
Wie hat das deutschsprachige Theaterfestival die Theaterlandschaft in Tschechien beeinflusst? Glauben Sie, dass das Festival dazu beigetragen hat, dass man hier mehr Stücke aus dem deutschsprachigen Raum aufführt als zuvor?„Ich glaube sogar zu wissen, dass dem so ist. Wir fördern diesen Trend so gut es geht, vor allem dadurch, dass wir den Josef-Balvín-Preis ins Leben gerufen haben. Dieser Preis wird an ein tschechisches Theater vergeben, das in der jeweiligen Saison ein Stück eines deutschsprachigen Autors inszeniert hat, und zwar in einer sehr guten Qualität. Wir freuen uns sehr, dass dieses Mal das Theater Kladno ausgezeichnet wurde, und zwar mit der Aufführung der ‚Bremer Freiheit‘ nach Rainer Werner Fassbinder.“
Wurden in den vergangenen Jahren auch Stücke inszeniert, die zuvor beim deutschsprachigen Festival zu sehen waren? Ich denke jetzt nicht an Kleist oder Schiller, sondern vor allem an Gegenwartsstücke.„Ja, so ist es. Auf Anhieb fällt mir ‚Top Dogs von Urs Widmer ein. ‚Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen‘ von Sibylle Berg ist das jüngste Beispiel, von dem ich weiß. Das Stück haben wir letztes Jahr beim Festival gezeigt, und seit Ende der vergangenen Saison wird es im Theater in Prag-Strašnice gespielt. Es ist wirklich so, dass wir mit dem Josef-Balvín-Preis die Inszenierung zeitgenössischer Stücke unterstützen. Es müssen Stücke sein, die nach 1900 entstanden sind. Das heißt kein Schiller und Goethe, weil die Anzahl der Stücke sonst unüberschaubar wäre.“
Für die Planung ihres Festivalprogramms sehen Sie sich viele Inszenierungen in Deutschland an. Wie verhält es sich in die andere Richtung? Werden tschechische Autoren auf deutschsprachigen Bühnen inszeniert?„Ich glaube, sehr selten. Ab und zu wird irgendwo ein Stück von Václav Havel aufgeführt, aber sonst nicht wirklich. Wir haben in der letzten Zeit aber sehr viele Aufführungen von einem Prager Schriftsteller gesehen, nämlich von Franz Kafka, der freilich – wie alle wissen – nicht tschechisch, sondern deutsch geschrieben hat. Es ist sehr erstaunlich, wie viele Aufführungen jetzt im Repertoire verschiedenster Theater erschienen sind.“
Wählen Sie für das Programm mit Absicht vorrangig Inszenierungen von deutschsprachigen Autoren? Es kommt nur sehr selten vor, dass ein Drama aus anderen Sprachen in Prag gezeigt wird.„Das hängt vielleicht damit zusammen, dass die Regisseure, die für uns am interessantesten sind, mit aktuellen Stoffen arbeiten wollen. Auch wenn sie einen Klassiker bearbeiten, machen sie das auf eine sehr progressive, aktuelle, zeitgenössische Art und Weise. Es entsteht dann sowieso ein zeitgenössisches Drama. Wenn man also zum Beispiel in der Schaubühne den Hamlet macht, hat man das Gefühl, ein zeitgenössisches Stück zu sehen. Wir wollen ja, dass das Festival progressive Arbeiten nach Prag bringt. Möglicherweise hängt es auch damit zusammen, dass wir uns nicht wirklich auf Klassiker konzentrieren. Andererseits, von allen Stücken, die wir inszeniert haben, war vielleicht die William-Shakespeare-Montage mit dem Titel ‚Schlachten!‘ aus dem Jahr 2000 am erfolgreichsten. Und jetzt haben wir einen Ausflug ins Residenztheater nach München veranstaltet. Da haben unsere Zuschauer einen sehr aktuellen ‚Faust‘ gesehen.“
„Diese Arbeit hört nie auf. Wir sehen uns durchgängig nach Dingen um, die interessant sein könnten.“
Können Sie beschreiben, wie eigentlich die Arbeit des Festivalteams aussieht? Wie entsteht das Programm und wann beginnt man, das nächste Festival vorzubereiten?
„Diese Arbeit hört nie auf. Es hängt vom Zeitbudget ab, ob wir schon vor Beginn des Festivals Aufführungen für das nächste Jahr gesehen haben oder nicht. Es passiert auch, dass wir zu Beginn des Festivals schon wissen, was wir im nächsten Jahr zeigen wollen. Das war der Fall bei ‚Don Giovanni‘ in diesem Jahr. Wir haben schon vor eineinhalb Jahren gewusst, dass wir mit dieser Aufführung die zwanzigste Ausgabe abschließen wollen. Eigentlich gibt es da keine wirklichen Phasen. Wir sehen uns durchgängig nach Dingen um, die interessant sein könnten. Dabei hilft uns das Internet immer mehr. Die Theater arbeiten sehr stark damit, wir können ganze Passagen oder Mitschnitte von den Aufführungen sehen. Das ist wunderbar, weil man sich eine Vorstellung machen kann, ob diese Aufführungen überhaupt räumlich nach Prag transportiert werden können und wie sie laufen. Außerdem kennen wir uns schon relativ gut damit aus, wie einzelne Regisseure arbeiten. Wenn also ein bestimmter Regisseur einen Autor mit einem bestimmten Ensemble inszeniert, können wir uns schon vorstellen, dass es nur gut werden kann. Deswegen gehen wir nicht sehr oft umsonst auf Reisen.“
Es gibt Bühnen, Ensembles und Regisseure, die wiederholt nach Prag kommen – sei es das Wiener Burgtheater, die Volksbühne aus Berlin oder aber das Thalia-Theater Hamburg. Suchen Sie in diesen etablierten Bühnen erstrangig nach den Aufführungen für das Prager Festival? Wie oft erscheint ein ganz neues und unbekanntes Theater auf dem Programm? Ist es dann auf Grund einer Empfehlung?„Es kann natürlich jederzeit passieren, dass ein neues Haus eingeladen wird. Es ist aber nicht so, dass im deutschsprachigen Raum neue Theaterhäuser entstünden. Eher ist es so, dass sich die Theaterleitungen ändern, und zwar alle vier, fünf oder sechs Jahre. Das Intendantenkarussell dort hat System. Es bedeutet, dass ein Intendant vier bis sechs Jahre in einem Theater bleibt und danach die Möglichkeit hat, sich zu bewerben: entweder zu bleiben oder an ein anderes Haus zu gehen. Es ist natürlich ganz spannend zu verfolgen, wie es jetzt wird, wenn Frank Baumbauer, der lange Jahre am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg war, in die Münchner Kammerspiele kommt und so weiter. Dadurch ist die Theaterlandschaft immer sehr lebendig. Da muss man schon aufpassen, um alle Neuigkeiten, alle Veränderungen mitzubekommen und zu berücksichtigen. Die Theaterleiter sind auch sehr daran interessiert, neue Regisseure zu gewinnen, und dadurch entstehen ganz spannende Projekte. Einer der neuen Regisseure, den wir eben schon seit zwei Jahren unbedingt zeigen wollten, ist Antú Romero Nunes. Er hat ‚Don Giovanni‘ inszeniert, wir sehen diese Aufführung zum Abschluss des Festivals.“
Wenn sie auf die 20 Jahre Festival zurückblicken, gibt es da gewisse Momente oder Höhepunkte, an die Sie sich besonders gerne erinnern?„Für mich war der Umbruch ganz wichtig, den wir im Jahre 1998 erlebt haben, als wir zwei Aufführungen von Christoph Marthaler nach Prag geholt haben. Diese beiden Aufführungen haben beim Publikum unglaubliche Begeisterung hervorgerufen. Ich habe den Eindruck, dass wir seit diesem Moment fast immer ausverkauft sind.“
Schmieden sich auch im zwanzigsten Jahr Zukunftspläne? Gibt es noch Wünsche und Träume, die Sie sich mal erfüllen möchten?
„Ein Wunsch und ein echter Traum wäre es, ein großes Schauspielhaus in Prag zu haben.“
„Natürlich haben wir Träume. Einer der Träume ist die Hamlet-Aufführung von der Schaubühne nach Prag zu bringen. Das ist so ein konkreter und, ich hoffe, erfüllbarer Traum. Ein Wunsch und ein echter Traum wäre es, ein großes Schauspielhaus in Prag zu haben. Ein echtes Schauspielhaus, das heißt ein großes Theater ohne Orchestergraben. Weil die Prager Theater einfach für die Oper oder für die Operette bestimmt waren. Ihre Bauweise verhindert mehr oder weniger den unmittelbaren Kontakt zwischen Bühne und Publikum. Und so wäre es wunderbar, wenn wir zum Beispiel die Neue Bühne des Nationaltheaters (Nová scéna) vergrößern können. Und wenn die Bühne mit einer Drehscheibe versehen werden könnte, wäre das ganz wunderbar.“