Jubiläum unter Kräuter- und Kochbüchern: Landwirtschaftliche Bibliothek wird 85

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Das Eckhaus aus roten Ziegeln in der Slezská-Straße im Prager Stadteil Vinohrady ist nicht zu übersehen. Nur wenige Prager ahnen, dass in diesem Prunkgebäude von Architekt Gočár eine Fachbibliothek untergebracht ist, die im internationalen Maßstab kaum zu vergleichen ist. Mit ihren Sammlungen ist die Landwirtschaftliche Bibliothek die drittgrößte Bibliothek ihrer Art weltweit. In diesen Tagen beging die Institution ein rundes Jubiläum.

Ich bin eine gebürtige Weinbergerin – also Pragerin, die im Stadtteil Královské Vinohrady / Königliche Weinberge zur Welt kam. Übrigens habe ich in diesem Stadtviertel auch Jahrzehnte lang gelebt. Oft bin ich an dem hohen roten Haus vorbeigegangen: in der Kindheit, als wir in das damals um die Ecke gelegene Theater von Spejbl und Hurvínek eilten. Später ging ich an dem Gebäude oft beim Besuch des Theaters „Na Vinohradech“ vorbei - das Schauspielhaus liegt nur wenige Schritte von dem Haus aus roten Ziegeln entfernt. Erst nach vielen Jahren entdeckte ich beim Vorbeigehen die Inschrift über dem Eingang. Sie ist dort bis heute zu sehen und klingt sehr altmodisch: Dům zemědělské osvěty – auf Deutsch: „Haus der landwirtschaftlichen Aufklärung“. Die Bezeichnung, die an die Zeit der nationalen Erweckung im 19. Jahrhundert erinnert, fand ich damals für das modern wirkende Gebäude nicht gerade passend. Sie entspricht jedoch vollständig dem Zweck, zu dem das Haus vor 85 Jahren erbaut wurde und dem es bis heute dient. Seit mehr als 80 Jahren hat dort die Landwirtschaftliche Bibliothek ihren Sitz. Voriges Jahr wurde in dem Gebäude das Institut für landwirtschaftliche Informationen und Landwirtschaft eingerichtet. Das Institut betreibt unter anderem eine Beratungsstelle und einen Informationsdienst über Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion, die jeder nutzen kann.

Auf die Idee, eine Institution zu errichten, die zur Förderung der tschechoslowakischen Landwirtschaft beitragen könnte, kam der Agrarexperte und Publizist Edvard Reich. Er wohnte im Stadtteil Vinohrady und es gelang ihm ein Grundstück in diesem Stadtteil zu kaufen. Mit dem Entwurf des notwendigen Hauses beauftragte er Anfang der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts den damals schon renommierten Architekten Josef Gočár. Und Gočár wollte roten Stein für den Bau verwenden, sagt Architekt Vladimír Šlapeta:

„Diese Architektur hat Gočár während seines Aufenthalts in den Niederlanden kennen gelernt. Als er Universitätsprofessor wurde, reiste er mit seinen Studenten nach Hilversum und dort hat er solche Gebäude gesehen.“

Foto: Autorin
Das Haus wurde am 28. Oktober 1926 feierlich eröffnet. Der damalige Schulminister und spätere Landwirtschaftsminister, Milan Hodža, beschrieb den Zweck des Hauses mit den folgenden Worten:

„In diesem Gebäude wird es keinerlei pompöse Unterhaltung geben. Denn es wurde der Arbeit geweiht und dient vollständig der Aufklärung. Neben Studiensälen für Forscher können hier landwirtschaftliche Experten eine Bibliothek und einen Lesesaal für das Studium nutzen oder die Agrarakademie besuchen. Im ganzen Gebäude findet man eine herrliche Synthese der Theorie mit der Praxis und alles, wovon die moderne Landwirtschaft lebt.“

Architekt Gočár, der einige bekannte kubistische und funktionalistische Gebäude entworfen hat, kümmerte sich auch um jedes Detail im Inneren des Hauses – bis hin zur Beleuchtung. Dabei habe Gočár oft mit namhaften Bildhauern zusammengearbeitet, sagt Architekt Šlapeta:

„Auf der Attika des Hauses sollten ursprünglich Pferdestatuen stehen. Sie sollten den Bezug zur Landwirtschaft demonstrieren. Zwei bedeutende Bildhauer, die mit Gočár befreundet waren, Jan Štursa und Otto Gutfreund, sind jedoch vorzeitig gestorben. Die Statuen konnten daher auf dem Haus nicht mehr installiert werden.“

Die einzigen Plastiken, die das Gebäude zieren, sind zwei Reliefs von Jan Štursa. Sie verzieren die Eingänge.

In diesen Tagen wurden im „Haus der landwirtschaftlichen Aufklärung“ mehrere Veranstaltungen vorbereitet. Sie stehen im Zeichen des 85. Jubiläums, seit mit den Bauarbeiten am Haus begonnen wurden. Erinnert wird dabei nicht nur an die Bauarbeiten, sondern auch an die erste Erwähnung der landwirtschaftlichen Bibliothek. Martin Kvítek leitet die Bibliothek:

Martin Kvítek  (Foto: Autorin)
„Am 29. November 1924 wurde im Statut der Tschechoslowakischen Agrarakademie über die Pläne zur Gründung einer Zentralen Slawischen Landwirtschaftlichen Bibliothek informiert. Die Bibliothek, deren Name später mehrmals geändert werden sollte, wurde 1926 eröffnet. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg hieß sie nur noch die Zentrale Landwirtschaftliche Bibliothek. Nach der Wende von 1989 wurde allmählich diese Bibliothek mit der Bibliothek der Nahrungsmittelindustrie zusammengeschlossen. Zum Bestand der Bibliothek gehören Dokumente und Bücher über die Landwirtschaft, die Lebensmittelproduktion, über das Leben auf dem Lande, Ökologie und anderes mehr.“

Foto: Autorin
Die Bibliothek umfasst heute fast 1,1 Millionen Bände. Es ist die größte landwirtschaftliche Bibliothek in Tschechien. Im Unterschied zu ähnlichen spezialisierten Bibliotheken an den Hochschulen oder in weiteren Forschungsinstituten ist dies jedoch eine öffentliche Bibliothek, betont Martin Kvítek:

„Wir bieten eine breite Skala an Informationen sowohl für die Öffentlichkeit, als auch für Studenten oder Fachleute. Man kann bei uns auch Recherchen bestellen. In der Bibliothek gibt es eine Beratungsstelle, wo verschiedene konkrete Fragen aus dem Bereich der Landwirtschaft beantwortet werden. Diese Beratungsstelle kann man per E-Mail kontaktieren. Innerhalb von drei Arbeitstagen sollten die Fragen beantwortet sein. Die Auskunft ist kostenlos.“

Foto: Autorin
Zum Bestand der Landwirtschaftlichen Bibliothek gehören auch viele wertvolle historische Drucke. Der älteste davon ist das „Kreütterbuch“ von Hieronymus Bock, das 1556 in Straßburg erschien. Das Buch sowie einige weitere der ältesten Bände, die in dem Haus aufbewahrt werden, konnte man diese Woche in einer Ausstellung besichtigen, die anlässlich des Jubiläums der Bibliothek vorbereitet wurde. Neben den historischen Drucken stellte Martin Kvítek mit seinen Mitarbeitern der Öffentlichkeit auch einen Teil der einzigartigen Sammlung von Kochbüchern und von Exlibris vor. Die Bibliothekare mussten die Dauer der Ausstellung aus technischen Gründen auf zwei Tage beschränken. Sie hoffen jedoch, dass sich künftig eine Möglichkeit findet, wenigstens einen Teil der historischen Sammlungen an einem geeigneten Ort länger vorstellen zu können. Die drittgrößte landwirtschaftliche Bibliothek der Welt hat zweifelsohne mehr Öffentlichkeit verdient.