„Kein Europa à la carte“ – Rebecca Harms, Grünen-Fraktionschefin im EP

Rebecca Harms (Foto: Archiv der Heinrich-Böll-Stiftung, CC BY-SA 2.0)

Im kommenden Jahr stehen Europawahlen an. Rebecca Harms ist Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament. Vor kurzem reiste sie in die Länder Mitteleuropas, um die Wahlkampagne vorzubereiten. Nach Prag kam Rebecca Harms dabei kurz nach den vorgezogenen Neuwahlen zum Abgeordnetenhaus. Im Folgenden ein Gespräch mit ihr über die Rolle Tschechiens in der Europäischen Union, die Östliche Partnerschaft und die Themen bei den Europawahlen.

Rebecca Harms  (Foto: Archiv der Heinrich-Böll-Stiftung,  CC BY-SA 2.0)
Frau Harms, aus Tschechien sind ja in den vergangenen Jahren häufig europakritische Töne gekommen. Wie würden Sie die Rolle beschreiben, die Tschechien in der EU eingenommen hat, solange es von konservativen Regierungen geführt wurde?

„Die Regierung Nečas, aber auch Präsident Klaus haben ein bestimmtes Bild von Tschechien geprägt: Einerseits will das Land die Vorteile der Mitgliedschaft nutzen, anderseits möchte es keine Verpflichtungen übernehmen. Es ist eine Haltung ‚Europa à la carte‘ - am liebsten europäische Kohäsionsfonds in Anspruch zu nehmen, jedoch nichts beitragen zu wollen. Dies wird in der EU nicht zum Ansehen einer Nation führen. Als Europäer stehen wir zu den Kohäsionsfonds. Sie sind ein sehr wichtiges Instrument, um die Idee der Angleichung der Lebensverhältnisse zu erreichen. Sind die Interessen allerdings derart einseitig, ohne erkennbare Bereitschaft für das europäische Projekt etwas zu leisten, ist es sehr schwierig.“

Foto: Tschechisches Fernsehen
Im März ist der extrem europakritische Staatspräsident Klaus durch Zeman abgelöst worden. Miloš Zeman hat als eine seiner ersten Amtshandlungen die europäische Flagge an seinem Amtssitz gehisst sowie den Beitritt Tschechiens zum Rettungsschirm unterschrieben. Und jetzt wurde hier ein neues Abgeordnetenhaus gewählt. Zwar stellt sich die Lage nach den Wahlen eher chaotisch dar: Aber denken Sie, dass sich die tschechische Europapolitik grundsätzlich ändern dürfte?

„Zunächst ist es nicht schlecht, dass eine europäische Flagge gehisst wurde - doch das allein ändert noch nicht die Politik. Die Wahlen, die inzwischen stattgefunden haben, werfen eher neue Fragen auf. Wie die neue Linie Tschechiens bezüglich seiner Europapolitik sein wird, bleibt offen. Es ist ein großes Phänomen, das bedeutende Akteure der tschechischen Politik bei weniger als ein Prozent gelandet sind. Stattdessen hat ein Mann mit viel Geld und Möglichkeiten es geschafft, mit seiner Partei zweitstärkste Kraft im Parlament zu werden. Wie der vorausgegangene populistische Wahlkampf sich in konkrete Politik übersetzen wird, das kann derzeit niemand absehen.“

Kernkraftwerk Temelín  (Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Tschechien war auf europäischer Ebene durchaus auch aktiv – und zwar wenn es um den Atomkurs des Landes geht. So fordern gerade Politiker aus diesem Land, dass die EU auch für die Atomkraft direkte Subventionen bereitstellen sollte. Das kann Ihnen als Fraktionschefin der europäischen Grünen doch gar nicht behagen...

„Ich bin immer wieder darüber überrascht, wie hoch in Tschechien die Bereitschaft ist, Risiken der Atomenergie zu übernehmen. Die schon vorhandenen Risiken durch das Kernkraftwerk Temelín sind meiner Meinung nach genug. Mehr davon braucht es nicht. Ich rate davon ab, Geld in den Ausbau der Anlage zu investieren. Aufgrund der steigenden Sicherheitsanforderungen kann dies sehr teuer werden. Für Tschechien würde es sich lohnen, mit weniger finanziellem Aufwand in eine nachhaltigere Energieversorgung zu investieren. Ebenfalls eine Last für das Land als auch für die Europäische Union ist der Kohlesektor. Ich kenne die strukturellen Schwierigkeiten, langsam aus der Kohle- und Atomenergie auszusteigen, auch aus Deutschland. Es geht auch um viele Arbeitsplätze. Tschechien sollte jetzt die Weichen stellen für eine modernere Infrastruktur und die richtige Strategie, wenn es nicht den Anschluss zum Rest Europas verlieren will.“

Wladimir Putin  (Foto: Presseamt des Präsidenten Russlands)
Während der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft wurde der Aufbau der sogenannten Östlichen Partnerschaft beschlossen. Wie wichtig ist Tschechien für die Weiterentwicklung dieses Projektes?

„Über die östliche Partnerschaft wird demnächst weitgehend beraten und entschieden werden, während des nächsten EU-Gipfels in Vilnius. Die Vorbereitungen dazu sind momentan inhaltlich sehr stark von den Handelsblockaden Russlands gegenüber Ländern der östlichen Partnerschaft dominiert. Ich fürchte, dass das die Wahrnehmung vom restlichen Europa bezüglich einer solchen Partnerschaft sehr beeinflussen wird. Das Problem ist eine zu geringe Aufmerksamkeit für den östlichen Teil der EU. Hier unterscheidet sich Tschechien nicht mehr oder weniger von anderen Mitgliedsstaaten. Doch sind die östlichen EU-Mitglieder insgesamt durchaus verantwortungsvoller als die westlichen. Nur Reaktionen auf Druck von Putin und Entscheidungen, die auf geostrategische Arrondierungen im Osten abzielen. werden nicht helfen, die großen Probleme in Ländern wie der Ukraine, Aserbaidschan, Armenien oder auch Georgien zu lösen.“

Im kommenden Jahr stehen Europawahlen an. Welche europaweiten Themen könnten denn Ihrer Meinung nach den Wahlkampf dominieren?

„Als Erstes müsste bei den nächsten Wahlen gezeigt werden, dass es eine europäische Demokratie gibt, die auch funktioniert. Das Europäische Parlament hat in der letzten Amtszeit Dinge geschaffen, die für die Bürger gut sind, obwohl sie die Regierungen nicht wollten. Wir haben neue Fortschritte gemacht bei der Lebensmittelsqualität oder beim Verbraucherschutz. Der wichtigste Schritt war meiner Meinung nach aber die Schaffung einer gemeinsamen Bankenunion. So wurde sichergestellt, dass es eine wirkliche Aufsicht über die europäischen Banken gibt. Wer zur Wahl aufgerufen ist, sollte sich zuvor ein detailliertes Bild davon machen, was das Europäische Parlament für die Bürger geleistet hat. Was vor uns liegt, ist nicht wenig. Die Regulierung der Finanzmärkte zur Eindämmung der Euro- und Finanzkrise ist für mich das Wichtigste. Es kann nicht so weitergehen, dass Banken zuungunsten öffentlicher Haushalte permanent gegen ihre Risiken abgesichert und freigekauft werden. Die Bankenunion muss deshalb so vervollständigt werden, dass Großbanken, die faule Kredite aufgehäuft haben, abgewickelt werden können. Dies ist keine Selbstverständlichkeit, im Gegenteil: Es ist höchst umstritten zwischen dem Europäischen Parlament und vielen Regierungen einzelner Mitgliedsstaaten.“