Klischees dementieren, um sie dann zu bestätigen – Martin Becker über seine Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien
Für alle Tschechien-Reisenden und Prag-Besucher gibt es neue Lektüre: Im Piper-Verlag ist vor kurzem eine "Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien" erschienen. Verfasst hat sie der Journalist und Autor Martin Becker, der seit Jahren regelmäßig an die Moldau kommt – zum Arbeiten, aber vor allem, um Prag zu erleben. Im Buch stattet er auch unbekannteren Ecken von Tschechien einen Besuch ab. Ein Gespräch mit dem Autor über eine Leidenschaft, die vor zehn Jahren im Bulovka-Krankenhaus ihren Anfang nahm.
„Die Liebe zu Tschechien hat tatsächlich mit der Liebe zu Prag begonnen, und zwar durch einen Zufall: 2006 war ich zum ersten Mal in der Stadt, mit meiner damaligen Freundin. Und dann fing die Liebe an. Ich kam krank in die Stadt, habe auch meinen ersten Abend in einem Krankenhaus verbraucht, im Bulovka. Ich wusste damals natürlich nicht, was das Bulovka war. Ich war ein kranker Mensch – und ein extrem glücklicher Mensch, weil ich von der ersten Sekunde an in alles verliebt war, in die Stadt, in die Sprache. Ich wusste, das ist es. Es war wirklich Liebe auf den ersten Blick, wie es sie eigentlich gar nicht gibt – außer in Büchern.“
Zehn Jahre später haben Sie selbst ein Buch über diese Liebe geschrieben, eine Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien. Hatten Sie einen Plan, was Sie zeigen wollten?„Ich hatte den Plan, vor allem meiner Leidenschaft zu folgen, zu zeigen, was mich interessiert hat und was ich fantastisch fand. Und dann habe ich auf dem Weg noch andere Dinge entdeckt. Zum Beispiel war ich zuvor noch nie in Karlovy Vary. Nun ist Karlsbad ein ganzes Kapitel gewidmet. Das Schöne an dieser Reihe ist: Ich wollte nicht nach Karlsbad. Der Verlag meinte aber, es wäre schön, wenn es ein Kapitel über Karlsbad gäbe. Dann habe ich gesagt, ok, ich fahre nach Karlsbad. Ich kam unglücklich verliebt nach Karlsbad und habe einen Karlsbader Blues geschrieben. Das war das Schöne an der Reihe, dass ich diese Freiheit hatte. Und ja, Karlsbad war für mich auch eine Überraschung. Ich würde sogar noch einmal hinfahren. Es war für mich eine Erweiterung der Liebe.“
„Der tschechische Humor ist mir extrem nah, die Haltung zum Leben, auch eine gewisse Uneitelkeit.“
Einen großen Anteil an dieser Liebe zum Land haben wohl die Tschechen, diesen Eindruck hinterlässt ihr Buch. Kann man von einer Seelenverwandtschaft sprechen?
„Man kann auf jeden Fall von einer Seelenverwandtschaft sprechen. Der tschechische Humor ist mir extrem nah, die Haltung zum Leben, auch eine gewisse Uneitelkeit. Und das sagt jetzt ein Wessi! Ich bin ja so ein richtiger Wessi, gebürtig aus dem Ruhrgebiet. Vielleicht liegt es daran, dass dieser Humor, diese Art, das Leben zu nehmen, auch in meiner Familie vorkommt. Ich komme aus einer wirklich richtig proletarischen Familie. Mein Vater war Bergmann und hat unter Tage gearbeitet, und ja, er hatte etwas extrem Tschechisches, obwohl er nie hier war, obwohl er mit Tschechien nichts zu tun hatte! Der Humor, auch eine gewisse Großherzigkeit, das war meine Familie. Und ich glaube, deshalb war mir Tschechien von Anfang an so nah.“
Was hat Ihr tschechischer Bekanntenkreis zu Ihrem Buchprojekt gesagt?
„Sie haben sich gefreut, und wussten auch, dass ich schon sehr viel über das Land gearbeitet habe. Manche haben sich wahnsinnig gefreut, dass ich Dinge gewürdigt habe, die wir zusammen erlebt haben. Als sie das Buch bekommen haben, haben sie sich sofort gesucht. Manche Leute kommen mit falschem Namen vor, manche mit richtigem, haben sich dann auch gleich entdeckt – und waren dann schon auch sehr stolz.“Eine Person, die mit richtigem Namen vorkommt, ist der Schriftsteller Jaroslav Rudiš. Was hatte er für eine Bedeutung?
„Er ist wirklich einer meiner besten Freunde. Wir kennen uns nun auch schon zehn Jahre und mochten uns von Anfang an. Das war die zweite Liebe auf den ersten Blick. Wir haben viel zusammen gearbeitet, viel zusammen erlebt, viel zusammen durchlitten. Wir haben sehr viel Bier zusammen getrunken, um auch dieses Klischee einmal zu erfüllen. Aber auch ganz viel immer wieder über diese deutsch-tschechischen Verhältnisse gesprochen und gestritten. Das klingt jetzt ganz trocken, aber das war etwas sehr Lebendiges. Er ist für mich einfach als enger Freund eine ganz wichtige Person geworden, und wir begleiten uns mit großer Verbundenheit und Herzlichkeit.“
Unumgänglich in einem Buch über Tschechien sind wohl die ganzen bestehenden Klischees, von Schwejk, Kafka, Bier – wie sind Sie damit umgegangen?„Ich habe versucht, die Klischees zu beschreiben, wenn sie denn existieren und wenn ich sie auch entdeckt habe. Denn sehr häufig ist es so, dass man ein Klischee sieht. Wenn man es im Gespräch mit Tschechen erwähnt, sagen sie: Naja, das ist so ein Klischee – vergiss‘ das besser. Dann redet man weiter, trinkt Bier… Die Kneipe ist ein gutes Beispiel. Im vergangenen Jahr habe ich eine Radiosendung über den Mythos der tschechischen Kneipe gemacht. Da haben mir die Gesprächspartner gesagt, der Mythos Kneipe sei vorbei – ich hätte zwanzig Jahre früher kommen müssen. Dann dauert es zwei, drei Minuten und es kommt eine Einschränkung: ‚Ja gut, man hat schon noch magische Begegnungen in der Kneipe. Man geht auch noch zwei-, drei-, viermal die Woche hin, aber gut, ich glaube, die große Zeit ist doch vorbei.‘ Das heißt, die Klischees wurden dementiert, um dann doch wieder bestätigt zu werden. So bin ich damit umgegangen – ich hab manchmal versucht, die Geschichten hinter den Klischees zu finden. Ob das immer gelungen ist, kann ich nicht beurteilen. Das finde ich das Schöne an dem Buch: Es ist auch ein Experiment, eine Stadt, ein Land zu beschreiben auf 200 Seiten, was viel klingt, aber letztlich total wenig ist.“
Citace „Das Buch ist auch ein Experiment, eine Stadt und ein Land auf 200 Seiten zu beschreiben – was viel klingt, aber letztlich total wenig ist.“
Eine Sache, die Sie bewusst gemieden haben, ist das Zentrum von Prag. Warum denn das?
„Dem Zentrum bin ich im Buch aus dem Weg gegangen, weil ich dort in den letzten zehn Jahren tatsächlich selten war. Und zweitens, das gebe ich offen zu, weil ich kein Experte für Architektur bin. Ich hatte Reiseführer in der Hand, und ich hab‘ überlegt: Machst du jetzt ein Kapitel darüber – tust du so, als wärst du ein Experte, googelst du dir das zusammen? Und dann dachte ich: Nein, aufrichtiger wäre auch hier, meine Erfahrung zu beschreiben. Es ist für mich, wenn ich in Prag bin, nicht von großer Bedeutung – warum sollte ich dem also im Buch eine Bedeutung geben? Man hätte es anders machen können, es ist ein Punkt, der das Buch angreifbar macht. Aber dann ist es eben angreifbar, dann hat jemand anderes eben einen anderen Blick und kommt für die goldene Stadt nach Prag. Das ist völlig legitim, ich kann es verstehen – aber meine Sicht ist es eben nicht.“
Viel Bedeutung hat für Sie hingegen die Literatur. In Ihrem Buch hat nicht nur Kafka einen Platz, sondern auch unbekanntere Autoren wie Ota Pavel. War er von Anfang an gesetzt?„Ja, Ota Pavel war von Anfang an gesetzt. Ich hatte ihn im Jahr 2010 entdeckt, als ich antiquarisch zufällig ein Buch ausgegraben habe. Dann habe ich für ein österreichisches Magazin eine Geschichte über Ota Pavel gemacht. Es war so eine kosmische Fügung, dass ich genau zu der Zeit eine gute Freundin fand, die aus Roztoky kommt, einem Ort an der Berounka. Wie war das nochmal: Die Mutter unterrichtete den Sohn des Enkels des Fährmanns, der Ota Pavel über die Berounka gefahren hat…Es klingt sehr kompliziert. Um das abzukürzen: Ich hatte plötzlich Zugang zu Menschen, die Ota Pavel noch kannten. So fing diese Geschichte an, es waren wirklich wunderschöne Tage dort. Es ist schade, dass Ota Pavel literarisch in Deutschland, obwohl die Bücher neu aufgelegt wurden, noch so unentdeckt ist.“
Sie haben von Karlsbad, Roztoky gesprochen. Wie schwer war das, den Blick von Prag abzuwenden und auch andere Dinge zu entdecken?„Das war nicht schwer. Der Schwerpunkt des Buches sollte auf Prag liegen, das war mir wichtig, weil ich Prag am besten kenne. Ich habe allerdings viele andere Regionen auch gesehen und erlebt. Ostrava ist wirklich eine meiner Lieblingsstädte, da merkt man wahrscheinlich wieder meine Ruhrgebietsherkunft. Auch das Altvatergebirge, da war ich vor zwei Jahren, war eine unglaubliche Erfahrung. Ich habe versucht, auch da wieder dem zu folgen, was ich gemacht habe. Ein paar Jahre habe ich Prag sehr gut kennengelernt, und dann hat es mich hinausgezogen. Und wenn das jemand teilt, wenn er Prag über das Buch vielleicht kennenlernt und fragt, was kann ich denn noch sehen, dann kann es eine Hilfe sein. Es war die Idee, den Blick zu erweitern und die Leserinnen und Leser auf Entdeckungsreise zu schicken.“
Martin Beckers "Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien" ist im Piper-Verlag erschienen und kostet 15 Euro. Am 23. Juni wird der Autor beim Tag der offenen Tür der deutschen Botschaft in Prag aus seinem Werk lesen. Eine weitere Lesung gibt es am 13. September im Tschechischen Zentrum in Berlin, dann gemeinsam mit Jaroslav Rudiš.