„EXIT 89“: Ein seltsamer Treffpunkt von Menschen und Geschichte
„Damals, ja damals, das war was…“ so singen mit ironischer Nostalgie fünf Protagonisten des Stückes „Exit 89“. Das Stück hat am Mittwoch im Prager Theater „Archa“ seine Weltpremiere erlebt. Die Autoren sind der Tscheche Jaroslav Rudiš und der Deutsche Martin Becker. Sie haben die Handlung an einen Ort verlagert, der nur dem Anschein nach gewöhnlich ist: eine Tankstelle. Die Tankstelle befindet sich am 89. Kilometer der tschechischen Autobahn D1. Und sie ist symbolträchtig, hier befinden sich Hinweise auf die Jahre 1968 und 1989, aber auch auf die Zeit davor und danach. Zudem spricht man an der besagten Tankstelle ein tschechisch-deutsches Sprachgemisch.
„Eine tragische Operette“ oder auch „Ein Horror mit menschlichem Antlitz“. So bezeichnen die Autoren Jaroslav Rudis (36)und Martin Becker (26) ihr gemeinsames Werk, das in der Regie von Jan Havelka (28) für Aufführungen in Prag, Brno, Hamburg und Berlin einstudiert wurde. Das Theatermacherteam arbeitete im Auftrag des Programms Zipp – tschechisch-deutsche Kulturprojekte.
Die Handlung spielt auf einer heruntergekommenen Autobahnraststätte auf der tschechischen Autobahn D1. Sie ist nicht fiktiv.
Jaroslav Rudiš: „Exit 89 gibt es wirklich an der Autobahn D1, die Prag mit Brno/Brünn verbindet. Wenn man es überregional sieht, dann kann man sagen, dass sie Deutschland mit Mitteleuropa oder Westeuropa mit Osteuropa verbindet. Diese Autobahn zu fahren ist ein Horror. Jeden Tag passieren hier schwere Unfälle. Und auch in unserem Stück passiert ein Unfall. Ausgerechnet am 89. Kilometer der D1, wo Alexandr Dubček tragisch verunglückt war. Dort gibt es eine Tankstelle, die eine Welt für sich darstellt. Die gibt es auch in Wirklichkeit. Einerseits findet man dort ein bisschen Ruhe, aber gleichzeitig ist dort sehr viel los, denn der Verkehr ist groß und es ist immer wieder viel Lärm zu hören.“
An diesem Ort treffen sich sechs Menschen irgendwann im August: Der Chauffeur der Regierungslimousine und Dubcek-Bewunderer. Er irrt durch den Ort, in seinem Kopf steckt seit 1968 eine Kugel, die ihm starke Schmerzen bereitet. Das deutsch-tschechische Liebespaar, Christian und Nela, streitet sich, zwei LKW-Fahrer, der Deutsche Rudi und der Tscheche Sascha, betrinken sich. Alle ihrer Gespräche sind voller Anspielungen - auf das „Revolutionsjahr“ 1968, aber nicht nur auf das:
Martin Becker: „Obwohl anfänglich die Arbeitsthese war, wir arbeiten über ´68, hat sich schnell herausgestellt, dass wir auch das Jahr ´89 berücksichtigen müssen, “
sagt Martin Becker. Er wie auch seine tschechischen Kollegen waren im Jahr 1968 noch nicht auf der Welt, mussten daher viel recherchieren und haben sich unzählige Dokumente aus jener Zeit angeschaut. Sie wollten aber keine historische Revue auf der Bühne vorführen.
Martin Becker: „Die Zeit bildet sich durchaus ab und man spürt sie. Und auch viel Bedrückung in der Inszenierung, die aber dann sofort ins Komische kippt. Also ist der Titel Operette insofern gar nicht so schlecht, weil im Grunde das, was verhandelt wird, ausgesprochen tragisch ist und eng, bedrückend, aber immer durch eine Leichtigkeit gebrochen wird und – ich hätte fast gesagt – in den Trash gezogen wird, was aber, glaube ich, nicht schlimm ist.“
Jaroslav Rudiš: „Für mich ist es eine Zeit unerlebter Hoffnung, einer gewissen Naivität, aber sicherlich auch die Zeit einer großen Spannung und großen Energie. Für uns ist natürlich unser Jahr ´68 der November ´89, der die Geschichte von 1968 überwalzt hat.“
Inspirationen für komische Situationen und ihre Bühnendarstellung holten sich Rudis und Becker aus einem Fernsehprogramm, das auch in der Tschechoslowakei höchste Einschaltquoten hatte.
Jaroslav Rudiš: „Wir spielen auch mit der Poetik von ‚Ein Kessel Buntes’, des bekannten Programms im DDR-Fernsehen, das wir mitbekommen haben. Die Sendung hätte zwar lustig sein sollen, aber sehr oft war diese sozialistische Popkultur auch irgendwie tragikomisch. Ich kann mich an die Witze erinnern, die man aus dem DDR-Deutsch fast gar nicht ins Tschechische übersetzen konnte. Oder im Tschechischen waren sie gar nicht witzig. Ich kann mich an die vielen tschechoslowakischen Stars erinnern, die sehr gerne im Programm auftraten. Ich habe einige Farben von ´Ein Kessel Buntes´ im Kopf behalten, das ist etwa blau, rosa und grün. Es war auch viel Glitzerndes dabei, in einer Zeit also, in der eigentlich nichts glänzte. Und irgendwie war es auch peinlich.“
Ein langer Weg war es bis zur Endfassung von „Exit 89“. Ursprünglich war eine moderne Oper vorgesehen. Das Duo Rudis-Becker tüftelte anfangs an einem Libretto. Eine rein musikalische Bearbeitung des Themas passte ihnen aber nicht ins Konzept. In welches Genre die gespielte Endfassung hineinpasst, ist auch heute nicht ganz klar.
Martin Becker: „Es ist keine Oper im üblichen Sinne, und sicherlich auch keine Operette. Von einem Musical würde ich trotzdem nicht reden, weil das, was verhandelt wird doch zu ernst ist. Aber in der Tat war es so, dass unser Libretto mehr ein Thetarstück war. Was einfach daran lag, dass wir mit der Form große Schwierigkeiten haben. Das war unser Problem, da wir nicht in jedem Punkt lösen konnten, aber letzten Endes, weil der Komponist und der Regisseur mit dem Text, mit unseren Ideen also, sehr viel gearbeutet haben, dadurch ist es dann zu der Form der Operette gekommen.“
Das Stück ist zweisprachig und wird in Tschechien und Deutschland gespielt. Was sagen seine Verfasser über die Sprache? Wird sie für das Publikum hüben wie drüben verständlich sein?
Jaroslav Rudiš: „Es wird in einer hoffentlich reizenden Mischung gesprochen.“
Martin Becker: „Ich glaube, dass der Text verständlich sein wird, weil es auch eine Art Konferencier oder Moderator gibt, der sehr gut deutsch und auch sehr gut tschechisch spricht, und im Stil – das kannte ich gar nicht – des Übersetzers, der ein Kessel Buntes ins Tschechische übersetzt und den Abend so süffisant kommentiert.“
Jaroslav Rudiš: „Da bin ich wirklich gespannt. Wir haben versucht, dass es nicht zu tschechisch ist, aber dass der Humor richtig tschechisch ist. Es gibt auch eine Menge Ironie und Selbstironie. Ich hoffe, dass es funktionieren wird und dass uns das gelingt, was DDR-Humoristen nicht so richtig gelungen ist: Lachen mit ein bisschen Gänsehaut.“
Der Text hat sich bis zur Premiere noch extrem verändert, was aber gut ist. Denn nun werde er auch als Theaterstück funktionieren, sagt Becker. Ursprünglich wurde das ganze Stück allerdings in Deutsch geschrieben und erst anschließend ins Tschechische übersetzt. Wie viel Tschechisch und wie viel Deutsch in den Aufführungen gesprochen wird, dass entscheiden letztlich die Schauspieler und der Regisseur. Die Autoren haben darauf keinen Einfluss mehr. Ein Schauspieler jedenfalls spricht Deutsch als Muttersprache.
Martin Becker lehnte es bei unserem Gespräch ab, den Hauptgedanken des Stückes zu formulieren. Er und Rudis hätten nur das sagen wollen, was sie auch geschrieben haben. Für den Zuschauer bleibe dann viel Freiraum zum Selbstdenken. Hierzulande gibt es dazu in Prag und Brünn Gelegenheit. In Deutschland wird dies im November im Hamburger Theater Kampnagel und im Dezember im Berliner Theater Sophiensaal sein.