Kunsthistoriker Saliger: „Veitsdom und Stephansdom sind wie Geschwister“

Prager Veitsdom (Foto: Filip Jandourek, Archiv des Tschechischen Rundfunks)

Der Veitsdom auf dem Hradschin gehört zu Prag wie die Moldau. Wie viele weitere gotische Gotteshäuser hat er eine lange Baugeschichte. Der Grundstein wurde am 21. November 1344 gelegt. Erster Baumeister war der Franzose Matthias von Arras, nach dessen Tod übernahm Peter Parler die Aufgabe. Mit Beginn der Hussitenkriege wurden die Bauarbeiten jedoch unterbrochen. Fertiggestellt wurde die Kathedrale erst 1929. Die Karlsuniversität und das Prager Erzbistum haben vorige Woche eine internationale Konferenz zur Bauhütte des Veitsdoms veranstaltet. Fast genau 671 Jahre nach der Grundsteinlegung diskutierten Kunsthistoriker und Architekten unter anderem über die Ähnlichkeiten zwischen dem Veitsdom und dem Wiener Stephansdom. Martina Schneibergová hat darüber mit dem Wiener Kunsthistoriker Arthur Saliger gesprochen.

Prager Veitsdom  (Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Der Wiener Kunsthistoriker Arthur Saliger kennt sich nicht nur in der Baugeschichte des Stephandoms sehr genau aus, sondern auch in der des Veitsdoms. Bei der Konferenz in Prag wurden alle Diskussionsteilnehmer gefragt, wann sie beide Gotteshäuser zum ersten Mal besucht haben. Arthur Saliger:

„Ich liebe den Veitsdom seit meiner Kindheit. Ich bin wie jeder Wiener mit böhmischer Abstammung gekennzeichnet. Der Begriff ‚zlatá Praha‘ (Das Goldene Prag, Anm. der Red.) war bei uns zu Hause gängig. Ich wollte es immer sehen, denn ich habe immer gehört: Die schönsten gotischen Kirchen in Mitteleuropa seien der Veitsdom in Prag und der Stephansdom in Wien. Durch einen Zufall – da war ich in der ersten Klasse des Gymnasiums – sah ich in einer Zeitung Fotos und habe gleich gedacht: Das muss der Veitsdom sein. Und ich begann den Artikel zu lesen. Das Interesse war also seit der Kindheit da. Live gesehen habe ich ihn erstmals vor etwa 50 Jahren, als ich über Prag nach Berlin fuhr. Von der Bahnstrecke aus ist der Blick auf Prag überwältigend. Noch im gleichen Jahr, das war im September 1964, bin ich zu einem Verwandtenbesuch nach Böhmen gereist. Es war nahe von Prag. Ich hatte damals das Gefühl, ich betrete heimatlichen Boden. Immer wenn ich später in Prag war, bin ich den Weg entlang der Moldau gegangen, von dem man die berühmte Ostansicht des Veitsdoms hat – also alles sieht, was an ihm alt und schön ist. Ich bin dann für 14 Tage zu Besuch nach Prag gekommen. Ich ging zum Veitsdom, habe mich vor die Stufen der Georgskirche gesetzt, und obwohl ich kein guter Zeichner bin, habe ich mit dem Kugelschreiber die Maßwerke des Veitsdoms und die Gesamtansicht gezeichnet. Ich war damals am Anfang des Kunstgeschichtestudiums. So hat sich das entwickelt, dass ich jetzt hier einen Vortrag halte.“

Arthur Saliger  (Foto: Martina Schneibergová)
Arthur Saliger ging in seinem Vortrag auf die mittelalterlichen Beziehungen zwischen der Wiener und Prager Dombauhütte ein. Nach der Konferenz entstand das folgende Gespräch:

Herr Saliger, worin bestehen die Parallelen zwischen dem Stephansdom und dem Prager Veitsdom? Woran sind gegenseitige Beeinflussungen zu erkennen?

„Die Beeinflussungen waren sogar sehr intensiv und wechselhaft. Mal hat das eine Bauwerk das Vorbild geliefert, mal das andere. Der gotische Ausbau hat jedoch in St. Stephan früher begonnen hat in St. Veit. Auch der Typus ist völlig unterschiedlich: Der Stephansdom ist eine bürgerliche Hallenkirche, der Veitsdom in Prag eine Königskathedrale. Aber das Stilistische, das heißt, jenes das formale Erscheinungsbild prägende Phänomen ist so eng verwandt, dass man von Geschwistern sprechen kann.“

Stephansdom  (Foto: Bwag,  CC BY-SA 4.0)
Woran erkennt ein Laie die Gemeinsamkeiten, wenn er sich beispielsweise den Stephansdom anschaut und ihn mit dem Veitsdom vergleicht?

„Auch der Vollblutlaie kann manches erkennen, wenn er beispielsweise die Maßwerkformen, die Rippengeflechte und die Profilierungen sieht. Oder ein anderes einfaches Beispiel: Der hohe Turm steht an der Seite und nicht in einer Doppelturmfront – St. Stephan hat zwar auf der Westseite eine Doppelturmfront, aber sie ist älter, spätromanisch bis frühgotisch, der große Turm jedoch steht an der Seite. In St. Veit steht der Turm neben dem Querhaus, die Wenzelskapelle ist isoliert von der Portalzone. Aber zum Beispiel die Katharinenkapelle an St. Stephan und deren Ähnlichkeit zu dem Ostteil der Domsakristei von St. Veit sind verblüffend. Das erkennt jeder Laie.“

Gab es Steinmetze oder andere Handwerker, die sich sowohl am Bau des Veitsdoms und auch des Stephansdoms beteiligt haben?

Petr Chotěbor  (Foto: Martina Schneibergová)
„Ja, die gab es ganz sicher. Der Prager Architekt Petr Chotěbor hat einige gleiche Steinmetzzeichen an St. Stephan und St. Veit gefunden. Dazu kommt, dass spätestens nach dem Hussitensturm die Baustelle in St. Veit zu Erliegen kam, und viele Steinmetze sind dann nach Wien gegangen. Denn dort war der hohe Turm noch nicht fertig und sie haben mit Elan daran gearbeitet. Man sieht es an den Maßwerken, das sind Parlersche Maßwerke. Und damit erschöpft es sich nicht einmal. Es gab auch Wechselwirkungen: Im Glockenstubengeschoss vom hohen Turm von St. Stephan, also in der Zone zwischen den großen Dreiecksgiebeln und den verschränkten Doppelgiebeln, da kommt eine prismatische Struktur durch, die wohl mit einem älteren System verquickt ist und damit eine Einmaligkeit auslöst. Und in St. Veit wird dann etwas später von diesen Erkenntnissen aus Wien eine ältere Parlersche prismatische Turmidee à la Altstädter Brückenturm umgesetzt, nur dann mit einer freien Felderteilung. Auch das, was bei St. Stephan Teil der Struktur, der Tektonik und der Dekoration zugleich ist, wird hier in Prag separiert: Man zitiert die Strebepfeiler von St. Stephan, die dort tektonische Funktion haben, hier als Zierrat.“

Veitsdom in Prag  (Foto: Hellinterface,  CC BY-SA 3.0)
Werden die Strebepfeiler nur als Verzierung an dem Bau gestaltet?

„Ja, als Verzierung, was an und für sich wiederum eine ur-Parlersche Idee und zugleich eine Weiterentwicklung ist.“

Der Prager Veitsdom ist täglich geöffnet: im Winter, also von November bis März, montags bis samstags von 9 bis 16 Uhr und am Sonntag von 12 bis 16 Uhr. In der Sommersaison wird erst eine Stunde später geschlossen.