Leben gegen den Strom - Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts (Teil 3):
"Das Leben gegen den Strom" - so könnte man ohne weiteres die eigenwillig gewählten Lebenswege der Familien Tschapek und Köhler in der Vorkriegstschechoslowakei bezeichnen. In der dramatischen Zeit, als das politische Geschehen in Europa und hierzulande in einer Trennung der Tschechen und der Sudetendeutschen mündete. Ihre Söhne, Walter Tschapek und Fritz Köhler, hatten davon vieles mitbekommen. Bei einem Treffen in Berlin bat sie Jiri Hosek, Berichterstatter des Tschechischen Rundfunks, ans Mikrophon. Ihre Erzählung hat Jitka Mladkova für unsere Sendereihe Heute am Mikrophon bearbeitet:
Vor dem Krieg waren die beiden heutigen Achtziger noch jung, an das politische Geschehen und die damit verbundene Atmosphäre im so genannten Sudetenland können sie sich allerdings noch sehr gut erinnern. Auch dort hat sich die Situation mit Hitlers Machtergreifung 1933 sprunghaft radikalisiert. Im Spiel war das weitere Schicksal des Landes. Walter Tschapek:
"In dem Dorf, in dem ich wohnte, waren sehr wenige, die gegen den Hitler waren. Die waren alle verdummt, manipuliert, und wählten mehrheitlich Henlein. Ich habe einen Antifa-Bericht von meinem Vater, der 1945 erstellt wurde, und da steht genau, wie viele Wähler es waren und welche Partei sie gewählt haben. Ich weiß, dass es nur eine einzige Partei gab, die gegen die Nazis war, die Mehrheit waren eben die Henleinleute. Die Henlein-Anhänger gingen über die Grenze, bildeten dort die Freikorps und überfielen die Gendarmerieposten. Einige, die treu zur Republik standen - unter ihnen waren auch Parteilose - rückten in die tschechoslowakische Armee ein."
In Horni Pertoltice bei Frydlant / Friedland, wo die Familie Tschapek lebte, waren es insgesamt drei. Auch Herr Köhler kann sich noch gut an das unrühmliche Jahr 1938 erinnern, als sich die politische Krise um die deutsch besiedelten Grenzregionen im Mai zuspitzte und im September, kurz vor der Unterzeichnung des Münchner Abkommens, ihren Gipfelpunkt erreichte:"Ich wohnte in einem Haus unmittelbar am Ufer der Neiße, an einer Brücke. Sowohl im Mai als auch im September rückte ein Soldatentrupp an, der in unserem Haus einquartiert war. Auf der Brücke entstand eine Barrikade. Wir haben das Geschehen verfolgt. Im September gab es einen Schulstreik. Ich bin damals gerade in die erste Klasse des Gymnasiums in Reichenberg (Liberec) gekommen. Mitte September kamen die Ereignisse ins Rollen und etwa 90 Prozent der Kinder wurden dann von den Eltern vom Unterricht zurückgehalten. Die Lehrer waren gute Beamte"
Die politische Atmosphäre gab es also überall zu spüren, selbst in der Schule. An den Ergebnissen der Wahlen lässt sich eindeutig erkennen, wie sie war, sagt Walter Tschapek. Die Maiwahlen 1938 habe er immer noch im Kopf:
"Meine Gemeinde, ein Vorort von Liberec (Reichenberg), hatte insgesamt rund 5000 Einwohner und 2001 von ihnen haben Henlein gewählt. 181 wählten die Kommunistische Partei und 55 stimmten für die Sozialdemokraten. In unserem Ort gab es aber auch eine starke tschechische Minderheit, die auch mit gestimmt hat. Es gab also noch über 680 Stimmen für die tschechischen Parteien."
Die Frage nach der Einstellung der Gleichgesinnten, der sudetendeutschen Antifaschisten also, zur tschechoslowakischen Republik erläutert Fritz Köhler am Beispiel des seinerzeit bekannten tschechischen Liedes "U nasich kasaren stoji ceska straz", zu Deutsch etwa "An unserer Kaserne steht die tschechische Wache". Und das ist eben der Punkt - nämlich das Wort "tschechisch":"Wie war die Mentalität der Antifaschisten? Wenn sie das Lied hörten, haben sie es wie folgt interpretiert: Es ist nicht ein ´tschechischer Wachsoldat´, sondern ein böhmischer. Im Tschechischen lässt sich das schwer nachvollziehen. Vom Sprachgefühl, würde ich sagen, ist es etwa so: ´Stoji straz v Cechach´, da steht ein Wachmann aus Böhmen. Das war also die Haltung der Antifaschisten vom Gefühl her - das Gefühl der Zugehörigkeit zum Land!"
Mit dem Münchner Abkommen vom 28. September 1938 hörte die Tschechoslowakei auf zu existieren. Der junge Walter Tschapek war mit seiner Mutter auf der Flucht. Zunächst nach Turnov, wo sie eine Nacht in einer Fabrikhalle verbrachten. Dann ging es nach Mlada Boleslav / Jungbunzlau, wo beide einige Zeit in einem Arbeiterheim wohnten. Den Anfang ihrer ersten Vertreibung schildert Tschapek folgendermaßen:
"Da kam eines Abends die Gendarmerie und brachte uns raus zum Bahnhof. Der lag damals sehr weit entfernt. Meine Mutter wusste, dass die Nazis einen Steckbrief auf meinen Vater ausgestellt hatten, der früher bei der "SOS" (Straz obrany statu) - der Staatsschutztruppe diente. Deshalb hat sie einen Gendarm auf dem Bahnhof angesprochen: ´Wie können Sie es wagen, uns die wir treu zur Republik gestanden haben, den Nazis auszuliefern? Sie schicken uns von hier aus direkt ins Konzentrationslager.´ Der Gendarm hat dann gesagt: ´Machen Sie, was Sie wollen, ich schaue nicht hin.´ Wir sind dann in der Finsternis durch den Gepäckaufbewahrungsraum wieder zurück nach Mlada Boleslav geflüchtet."Dort kannte die Mutter nur eine Stelle - das Friseurgeschäft. Seine Inhaber, die Familie Dolansky haben die beiden Flüchtlinge aufgenommen:
"Dort haben wir illegal gewohnt. Ich bin sogar in die Schule gegangen. Die Lehrer wussten, dass ich ein Deutscher bin, und haben mich nie angesprochen, damit ich nicht auffiel. Ich bin aber nur in die Schule gegangen und wieder nach Hause."
In Jungbunzlau blieben sie nur einige Monate, denn es kam der 15. März 1939, die Besetzung des restlichen Teils der böhmischen Länder durch die Nationalsozialisten. Walter Tschapek flüchtete mit seiner Mutter nach Prag und zwei Wochen später nach Großbritannien. Dorthin reiste mit dem Flüchtlingstransport auch Fritz Köhler. Darüber werden sie in der nächsten Ausgabe von "Heute am Mikrophon" erzählen.