Lesung in Prag: Jiri Kratochvil gemeinsam mit Irina Liebmann
Zwei Schriftsteller und eine gemeinsame Romanheldin. Gibt es so was? In der Tat! Einer Romanheldin des tschechischen Schriftstellers Jiri Kratochvil hat sieben Jahre später die deutsche Schriftstellerin Irena Liebmann in ihrem eigenen Roman ein zweites Leben geschenkt. Christoph Amthor hat sich unlängst bei einer literarischen Lesung im Interview mit Jiri Kratochvil klug gemacht. Das Gespräch können Sie im nun folgenden Kultursalon hören:
Zu einer literarischen Begegnung der ganz seltenen Art kam es im Oktober in Prag: Der tschechische Schriftsteller Jiri Kratochvil und die deutsche Schriftstellerin Irina Liebmann lasen im Rahmen einer Veranstaltung der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft aus ihren beiden Romanen. Diese beiden Werke sind dabei auf ungewöhnliche Weise miteinander verbunden: Denn der eben erst erschienene Roman der in Moskau geborenen und in Berlin lebenden Autorin Irina Liebmann mit dem Titel "Die freien Frauen" verdankt sein Entstehen und eine seiner Figuren dem Roman "Unsterbliche Geschichte" ihres tschechischen Kollegen Jiri Kratochvil.
Zugegeben, diese Sonja Trotzki, so heißt diese Schöpfung Kratochvils, tritt in Liebmanns Roman nur am Rande auf, genauer gesagt: als Adressatin verzweifelter Briefe. Liebmanns Buch beginnt mit einem Brief, geschrieben von der neuen Romanheldin Elisabeth Schlosser an die alte Romanheldin Sonja Trotzki. Elisabeth Schlosser, die zu diesem Zeitpunkt noch alles andere ist als eine freie Frau, wie es der Titel verspricht, klagt darin über ihren Sohn. Der nämlich lehnt seine Mutter deshalb ab, weil er sie "für die Falsche" hält.
Eine Identitätskrise bahnt sich also an, in deren Folge sich Elisabeth Schlosser auf ihre Erinnerungen einlässt und dabei den so dringend gesuchten Halt endgültig zu verlieren scheint: Ehemalige Liebhaber tauchen auf und verschwinden wieder, das verschneite Berlin ruft Bilder von Zugverspätungen im Sozialismus hervor, in dem die Wartesäle noch warm waren und jedem offen standen, und schließlich ist es eine Olga, das ungeborene Wunschkind ihrer Eltern, die die Aufmerksamkeit der Heldin auf eine längst vergessene Zeit in Polen lenkt. Dort nämlich, genauer in Kattowitz, hatte sie zuletzt in einem Café mit dem symbolträchtigen Namen "Europa" unvergessliche Stunden erlebt. Und wie sie es als Kind von ihrem Vater gelernt hat, so greift Elisabeth Schlosser nun wieder auf einen bewährten Ratschlag zurück: Wenn man sich verliert, muss man sich dort suchen, wo man sich das letzte Mal gesehen hat.
Und nun entwickeln sich zwischen Berlin, Kattowitz und Gleiwitz die verschachtelten und ineinander verwobenen Versatzstücke ihrer neu entdeckten Vergangenheit, vor dem Hintergrund einer zweiten Handlung, die vielleicht fiktiv ist, vielleicht aber auch wahr, und die von Spionen und von tragischer Liebe handelt. Schließlich findet sie das Ende des Fadens, der sie zu ihrer eigenen Biographie und dann sogar zu der rätselhaften Olga führt, ihrer geistigen Halbschwester.
Viel mehr sei vom Inhalt nicht verraten. Eine Empfehlung scheint aber dennoch angebracht zu sein: Beide Romane sollten in derjenigen Reihenfolge gelesen werden, in der sie verfasst wurden, da sich einiges Wesentliche in Liebmanns Roman erst mit Kenntnis des Vorgänger-Romans erschließt. Es war nur folgerichtig, dass beide Schriftsteller an diesem Abend im Goethe-Institut anwesend waren: Kratochvil las dem staunenden Publikum aus der "Unsterblichen Geschichte" erst auf Tschechisch, dann auf Russisch, und schließlich sogar auf Deutsch vor. Und Irina Liebmann ließ keine Zweifel daran, dass es sich bei ihrem Roman "Die freien Frauen" keineswegs um ein bloßes Helden-Recycling handelt. Denn in ihrer fesselnden Sprache entsteht ein Werk, das sich sehr bald von dem ihres Ideengebers loslöst, mit dem es aber zumindest die Freude am farbenprächtigen Fabulieren verbindet.
Wenn also Jiri Kratochvil über die Entfernung eine Art Tochter-Roman gezeugt zu haben scheint, muss es natürlich interessieren, wie der Autor selbst über diese literarische Liaison denkt. Und der geistige Urvater stand dazu bereitwillig Rede und Antwort.
Herr Kratochvil, es muss für einen Schriftsteller fast schon ein kleiner Schock sein, wenn sich eine seiner Romanfiguren selbständig macht und in einem fremden Roman ein neues Leben beginnt. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie davon gehört haben, dass Irina Liebmann die Hauptfigur Ihres Romans wieder verwendet?
"Es hatte mich gefreut, dass meine Heldin, die ich fast vergessen hatte, von den Toten auferstanden ist!"
Sie gelten als tschechischer Vertreter der Postmoderne, und auch Ihr Roman "Unsterbliche Geschichte" enthält viele postmoderne Elemente. In dem Titel einer früheren Sammlung von Essays hatten Sie damals sogar der Potmoderne Ihre Liebe erklärt. Handelt es sich dabei um eine ewige Liebe oder glauben Sie, dass die Postmoderne bloß eine Modeerscheinung war und längst der Vergangenheit angehört?
"Ich hatte es mit dieser Bewunderung der Postmoderne eigentlich nie völlig ernst gemeint, das war zugleich etwas ironisch und humoristisch gewesen. In der Tat nimmt mich aber sehr für die Postmoderne ein, dass sie das Interesse an Geschichten erneuert hat, ich bin fasziniert von Geschichten, und diese Faszination habe ich mit der Postmoderne gemein."
Ihr Roman handelt vor der Kulisse von Krieg, Vertreibung und Diktatur. Betrachten Sie es nicht als widersprüchlich, die oft sehr grausame Geschichte Mitteleuropas in humoristischer Weise zu verarbeiten?
"Über eine solch ernste wie auch tragische Geschichte kann man bloß mit Humor schreiben, man könnte auch gar nicht anders darüber denken als mit Humor. Letztendlich hat auch Hasek über die schrecklichen Begebenheiten des Weltkrieges mit Humor geschrieben. Kafka hat über seine Romane gesagt, dass sie im Wesentlichen humoristisch seien, er selbst hat sogar gelacht, als er sie Max Brod vorgelesen hat. Über schreckliche Dinge kann man nicht anders schreiben als mit Humor."
Ihre Heldin Sonja Trotzki lebt in einer Welt der tschechischen, russischen und deutschen kulturelle Vielfalt. Sie bringen dabei drei Nationalitäten zusammen, die nicht immer in Eintracht miteinander gelebt haben. Ist diese Verbindung lediglich durch Ihre persönliche Biografie begründet, oder sehen Sie da wirklich Gemeinsamkeiten?
"Ein Grund liegt natürlich darin, dass meine Großmutter Deutsche und mein Großvater Ukrainer waren, das Haus war voller russischer, deutscher und tschechischer Bücher. Dann habe ich Russistik studiert. Ich sehe aber auch eine besondere Nähe der deutschen und der russischen Kultur, sie beeinflussen sich gegenseitig, Nietzsche und Dostojevskij, Marx und Lenin, die Kulturen sind sich sehr viel näher, als es allgemein bekannt ist. Und die Tschechen gehören umgekehrt eher zur romanischen Kultur, zu Frankreich und Italien."
Ihrem Roman "Unsterbliche Geschichte" haben Sie ein Dostojevskij-Zitat vorangestellt: "Das, was die meisten phantastisch und außergewöhnlich nennen, bildet für mich die Grundlage der Wirklichkeit an sich", heißt es dort. Sind Ihre Werke ein Plädoyer für eine andere Wahrnehmung der alltäglichen Welt?
"Wenn Sie wollen, dass die Leute Sie hören, müssen Sie es auf eine besondere Weise sagen. Denn das, was alle wissen, was gewöhnlich, was selbstverständlich ist, nehmen sie nicht mehr wahr. Man muss es darum auf eine andere Weise sagen, und das ist gerade die Fantastik, von der dieses Zitat aus Dostojevskijs Briefen spricht."
Das zweite Leben Ihrer Romanfigur stellt vielleicht auch eine Herausforderung an Sie dar. Können Sie sich vorstellen, den Dialog mit Irina Liebmann fortzusetzen und nun wiederum eine Antwort auf ihren Roman zu schreiben?
"Zuerst muss ich ihn durchlesen, um mich dazu äußern zu können. Jetzt weiß ich es noch nicht. Ich schreibe jetzt gerade noch einen umfangreichen Roman, das ist noch Arbeit für mindestens ein Jahr ... und dann überlege ich, was als nächstes kommt, jetzt weiß ich es wirklich noch nicht."