Lilith stützt das „Fragment“: Skulptur von David Černý ziert neues Wohnhaus in Prag

Lilith stützt das „Fragment“ - eine neue Gebäude in Karlín

Der routinierte Prag-Besucher weiß es: Es lohnt sich durchaus, die üblichen Touristentrassen zu verlassen und sich auf Entdeckungstour im weiteren Umfeld des historischen Zentrums zu begeben. Der Stadtbezirk Karlín etwa ist wegen seiner Cafés, Kultureinrichtungen und Geschäfte vor allem bei einem jüngeren internationalen Publikum beliebt. Nun gibt es dort eine neue Attraktion für Liebhaber moderner Architektur und Kunst.

Am ersten Oktoberwochenende herrschte reges Treiben direkt gegenüber der „Invalidovna“ in Karlín. In unmittelbarer Nähe des barocken Lazarettgeländes entstehen derzeit mehrere moderne Wohn- und Bürohäuser. Aber nur eines wird von einer 24 Meter hohen Frauenskulptur „gestützt“. Die gitterartige Statue aus rostfreiem Stahl breitet ihre Arme um den schmalen Seitenteil des Wohnhauses namens „Fragment“. Sie ist das neueste Werk des bildenden Künstlers David Černý. Am Tag der Installierung verriet er in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks, wie er seine Schöpfung genannt hat:

„Sie heißt Lilith. Einerseits ist dies ein schöner Name, andererseits war Lilith die erste Frau überhaupt. Die Christen haben dies noch etwas abgeändert und auf Eva verwiesen. Lilith war aber vor ihr da. Und sie war die Erste, die entschied, sich Adam nicht unterzuordnen. Darum wurde sie aus dem Garten Eden verwiesen.“

Der Rückgriff auf die Bibelgeschichte und Adams erste Frau ist für Černý eher ungewöhnlich. Die meisten seiner Werke beziehen sich auf das aktuelle gesellschaftliche Geschehen oder die Zeitgeschichte, wie etwa der laufende Trabi „Quo vadis“, die Babys mit dem Münzschlitz als Gesicht am Fernsehturm in Žižkov oder der rotierende Kafka-Kopf in der Prager Neustadt. Aber auch Lilith habe einen Bezug zur Gegenwart, betont Černý. Er verweist auf das Zusammenspiel mit dem Gebäude „Fragment“, das aus der Vogelperspektive eine liegende Person darstelle:

„Das ganze Haus, die liegende Figur, steht natürlich in Verbindung zur ‚Invalidovna‘. Diese wurde einst zur Pflege von Kriegsinvaliden eingerichtet. Drinnen gibt es bemerkenswerte Fragmente von barocken Skulpturen. Das hat bei mir die Vorstellung von einer liegenden Person hervorgerufen, die von anderen – größeren oder kleineren – gestützt wird. So funktioniert ja auch die Gesellschaft.“

Zusammenspiel mit der "Invalidovna"

Invalidovna | Foto: Štěpánka Budková,  Radio Prague International

Das gegenüberliegende historische Lazarett habe bereits bei dem ursprünglichen Entwurf des Gebäudes eine wichtige Rolle gespielt, berichtet David Vitásek. Der Architekt vom Studio Qarta architektura begann vor genau sechs Jahren, gemeinsam mit seinem Partner Jiří Řezák die ersten Pläne für das Objekt „Fragment“ zu entwickeln. Die unmittelbare Umgebung dabei einzubeziehen, sei eine Grundvoraussetzung gewesen, so Vitásek:

„Die Lage des Gebäudes ist durch die Form des Grundstücks gegeben. Die ehrwürdige ‚Invalidovna‘ haben wir als Gegenpol der Frontseite aufgefasst. Und mit seiner länglichen Gestalt stellt das Haus den Kontakt zwischen dem alten Karlín und der ‚Invalidovna‘ her. Die Parzelle ist trapezförmig und läuft auf einer Seite zusammen. Diesen eigentlichen Nachteil haben wir in einen Vorteil verwandelt.“

Dass der Gebäudegrundriss an einen liegenden Menschen erinnert, ist aus der Fußgängerperspektive nicht zu sehen und eher ein Insider-Wissen, an dem sich die Schöpfer erfreuen. Außer den beiden Architekten und dem Künstler Černý hatte noch ein vierter Mann wesentlichen Anteil an der Errichtung des Objektes. Von Marcel Soural nämlich, dem Chef des Investitionsunternehmens Trigema, stammt der Impuls, dass die Wohneinheiten im Gebäude „Fragment“ vermietet werden. Dies scheint dem Trend entgegenzustehen, bei dem architektonisch interessantere Objekte gerade im weiteren Stadtzentrum von Prag einer finanzkräftigen Kaufkundschaft vorbehalten sind. Architekt Jiří Řezák erläutert:

„Die tragende Idee von Marcel war, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen und nicht die einzelnen Teile zu verkaufen. Er wollte das Konzept als Ganzes erhalten. Damit soll vermieden werden, dass es mehrere Eigentümergruppen gibt, die sich womöglich nicht um den Erhalt kümmern wollen. Mir hat gerade der Gedanke gefallen, das ganze Objekt einschließlich der Skulpturen zusammenzuhalten. Daraus ist dann die Idee für die Mietwohnungen entstanden.“

Fragment-Visualisierung Gebäudegrundriss | Foto: neoVISUAL.cz / Trigema

Die 140 Wohneinheiten haben die Form von Würfeln. Mit maßstabsgerechten Holzquadern hat Řezák dann auch zu Beginn das Model auf dem trapezförmigen Grundriss gebaut. Die endgültige Gestalt und die Ergänzung durch David Černýs Kunstwerk wurden letztlich bei einem weihnachtlichen Treffen in einem Prager Restaurant festgelegt. Investor Soural erinnert sich noch genau:

„Die Architekten Řezák und Vitásek brachten ein Styropormodell des geplanten Gebäudes mit. David Černý sagte dazu, dass der Entwurf noch nicht der richtige sei und er andere Vorstellungen habe. Er ließ sich vom Chefkoch ein großes Messer geben und schnitt die endgültige Form des Hauses zurecht – so wie wir sie heute vor Ort sehen können. Das war super, wir haben das alles gefilmt.“

24 Meter groß, 35 Tonnen schwer

Fragment | Foto: Trigema

Im Folgenden passte Černý seine Frauenskulptur an das Gebäude an. Mit der Fertigung des Kunstwerks wurde laut Soural im Januar 2021 begonnen. Insgesamt wiegt die durchsichtige Stahlkonstruktion 35 Tonnen. Dank einer komplizierten Mechanik, die Černý selbst entwickelt hat, ist der Kopf der Statue beweglich. Sobald die Bauarbeiten beendet sind, wird Lilith täglich um Mitternacht ihr Haupt um 180 Grad drehen. Und auch tagsüber wird sich die Frauengestalt, die dem Gebäude zugewandt ist, immer mal wieder umschauen. Marcel Soural beschreibt den Aufbau der gesamten Figur:

„Die Installierung ist wirklich keine einfache Angelegenheit. Es handelt sich um ein zusammengeschweißtes Gitter aus zehn Millimeter dicken Eisenteilen. Für die Statik war dies eine Herausforderung. Die Montagefirma, die auch die Kräne stellt, hat fünf Beratungen abgehalten, jeder Schritt wurde detailliert dokumentiert und getestet. Dies war also kein Spaß.“

Fragment | Foto: Trigema

Bei der Aufstellung am 1. Oktober war darum ein 80 Meter hoher Kran im Einsatz, um Lilith an das Gebäude anzupassen. Rund um das Wohnhaus finden sich zudem noch weitere Skulpturen von David Černý. Bereits installiert sind ein Fuß und eine Hand – Fragmente also, wie es der Name des Objektes quasi vorschreibt. Den Zusammenhang mit der Hauptfigur schildert Černý wie folgt:

„Die Bedeutung des Fußes ist klar. Er gehört Adam, und damit hat er Lilith aus dem Paradies gestoßen. Was die Hand bedeutet, war bisher ein Geheimnis… Es ist natürlich die Hand von Gabriel. Zudem wird es noch eine zweite Hand geben, die aus der Unterwelt herausragt, und das ist die von Luzifer. Diese vierte Skulptur wird sehr beweglich sein – so wie Luzifer es auch ist.“

Fragment | Foto: Trigema

Das klingt fast gespenstisch, soll das Objekt aber sowohl für die Anwohner als auch für Passanten und Touristen interessanter machen. Diese ungewöhnlichen Verzierungen, vor allem die Figur Lilith, hätten die Kosten für das Projekt natürlich um einiges erhöht, räumt Investor Soural ein:

„Ich weiß gar nicht, wie teuer die Skulptur an sich war. Wir würden dies auch ungern mitteilen. Ich kann aber sagen, dass das ganze Projekt ‚Fragment‘ anders kalkuliert ist. Der Bau ist kompliziert, die Fassade ist stark gegliedert – daher auch der Name für das Objekt. Ich kann verraten, dass der gesamte Bau einschließlich der Skulpturen 20 bis 30 Prozent teurer war, als wenn wir die übliche Technologie verwendet hätten.“

Zweifel daran, dass sein Geld in der Kunst von David Černý gut angelegt ist, hat Soural aber keine:

„Vielleicht erscheint es wie zweckloser Schmuck. Aber wenn alle Gebäude gleich aussehen würden und immer ähnliche Kastenformen, Fenster und Fassaden hätten, dann würde es uns wohl kaum gefallen, in der Stadt zu leben. Vor einiger Zeit haben wir deswegen beschlossen, einen anderen Weg einzuschlagen. Wir wollen wieder bekannte Architekten ins Bauwesen zurückbringen und sie mit Künstlern vernetzen. Dadurch sollen die Häuser eine andere Bedeutung bekommen, als sie sie bisher hatten. Es reicht, sich das Nationalmuseum oder das Nationaltheater anzuschauen. Das sind nicht nur Bauten als solche, sondern sie sind voller Kunst. Erst diese macht ein Gebäude besonders und schön.“

Fragment | Foto: Trigema

Auch Architekt David Vitásek ist überzeugt, dass das Projekt „Fragment“ zukunftsweisend ist:

„Das Gebäude hat viele positive und interessante Aspekte. Sein Konzept arbeitet sehr gut mit Dingen, die aktuell diskutiert werden, wie dem öffentlichen Raum, der Zugänglichkeit von Gebäuden oder Parterreräume. Die architektonische Aufgliederung und die Zusammensetzung des Objektes mit den Skulpturen – dies alles weist die Richtung.“

In einem so aufwändigen und exklusiven Haus zu wohnen, noch dazu voll ausgestattet mit modernen Designermöbeln, hat natürlich auch seinen Preis. Die Miete für ein Zweizimmerappartement mit Wohnküche beginnt bei 26.000 Kronen (1060 Euro) im Monat.

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Autoren: Daniela Honigmann , Vladimír Kroc
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