Mauerschau in Prag - Europäisches Theaterprojekt "After the Fall"
Was bedeutete der Fall der Berliner Mauer für Menschen in anderen europäischen Staaten? Das Goethe-Institut hat Dramatiker aus fünfzehn Ländern gebeten, den Mauerfall vor 20 Jahren in Theaterstücken zu reflektieren. So ist das europaweite Projekt „After the Fall“ entstanden, mit vielfältigen Darstellungen von Gesellschaftsbildern nach der Wende. Am Montag hatte im Prager Theater „Divadlo Letí“ das Stück „Zazděná – Mauerschau“ seine Uraufführung.
Die Handlung des zweisprachigen Stücks beginnt und endet in der Gegenwart, im kleinen Dorf „Himmlisch Ribnei“ im ehemaligen Sudetenland. Drei junge Mädchen, unzufrieden mit ihrem Leben, haben als Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr gerade einen Brand an der Friedhofsmauer gelöscht. Da taucht in einem alten Bus die geheimnisvolle Eva auf. Sie ist anscheinend Deutsche und will über die Grenze fahren. Eva lädt die Mädchen in ihren Bus ein. Was folgt, ist eine Zeitreise: Zweiter Weltkrieg, der Prager Frühling 1968, der Fall der Berliner Mauer. Eva ist die Reiseleiterin in die Vergangenheit.
Das Stück der jungen Dramatikerin Barbora Vaculová wurde von einem deutsch-tschechischen „Regietandem“ inszeniert: Martina Schlegelová wurde in Tschechien geboren, wo sie arbeitet und lebt, ihre Familie stammt jedoch aus Deutschland. Die zweite Regisseurin, Susanne Chrudina, ist Tochter einer tschechischen Emigrantenfamilie. So haben beide einen persönlichen Bezug zum Thema des Stückes. Dass aus den unterschiedlichen Mentalitäten auch Probleme entstehen können, erklärt Susanne Chrudina:
„Was man schon teilweise merkt, ist, dass Arbeitsabläufe im Theater und die Produktionsabläufe unterschiedlich sind. Oder auch die Begrifflichkeiten, dieser Jargon. Man muss also erstmal eine eigene Sprache für das Team finden. Denn jeder bringt eine Sprache mit, aber die versteht die andere Seite nicht.“
Dabei sind es gerade die unterschiedlichen Mentalitäten und die persönlichen Familiengeschichten, die die Autorin Barbora Vaculová in dem Stück verarbeitet. In der Inszenierung wechseln sich Dialoge der Figuren und Zeitdokumente ab. So entsteht ein Kontrast zwischen „persönlicher“ und „öffentlicher“ Erfahrung. Auch auf sprachlicher Ebene gibt es den Blick von zwei Seiten: Auf der Bühne sprechen alle Schauspieler sowohl Tschechisch als auch Deutsch.
„Das ist ein Experiment.“, erklärt Barbora Vaculová. „Die beiden Sprachen können nebeneinander funktionieren. Und zwar so, dass das Stück sowohl für Tschechen als auch für Deutsche verständlich ist.“
Manche Szenen werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln gezeigt. Die Situation wiederholt sich, die Sprachen wechseln. Mit der veränderten Perspektive wandelt sich auch die Deutung der Situation. So kann der Zuschauer nach und nach den gesamten Text und damit alle Zusammenhänge verstehen, auch wenn er die jeweils andere Sprache nicht spricht.
Ziel von „After the Fall“ ist es, den Fall der Berliner Mauer und seine Folgen in ganz Europa ins Gedächtnis zu rufen. Für die Autoren sind ihre Theaterstücke ein Mittel, um sich mit dem Wandel in ihrer Heimat seit dem Mauerfall auseinanderzusetzen. Die Autorin Barbora Vaculová erzählt, wie sich 1989 auf ihr eigenes Leben ausgewirkt hat:
„Das ist deshalb interessant, weil ich im Jahr 1989 erst 10 Jahre alt war. Die Mitglieder des Inszenierungsteams waren noch jünger. Ich habe deshalb hauptsächlich emotionale Erinnerungen, aber es hat sich eigentlich alles verändert. Wir können reisen, wir können Sprachen lernen, die man vorher nicht lernen konnte. Die Welt ist einfach offener.“
Von Dublin bis Belgrad, von Brüssel bis Norrköping - so unterschiedlich wie die teilnehmenden Städte sind auch die Autoren. Das spiegelt sich in den entstandenen Produktionen wider: Ausdrucksformen wie das reine Sprechtheater haben genauso ihren Platz wie Stepptanz oder ein Quiz. Oder Kabarett, wie im Fall von „Mauerschau“. Susanne Chrudina:
„Ich mag die Tradition des Kabaretts sehr. Diese Mischung aus vordergründiger Unterhaltung, die derb ist und auch Grenzen überschreitet und sich gleichzeitig immer mit politischen Dingen auseinandergesetzt hat.“
Das Kabarett ist scharfsinnig und witzig, gleichzeitig aber auch grausam und traurig.
„So wie es im Theater den Narren gibt, ist das Kabarett sozusagen der ‚Narren-Raum’, in dem ganz viel möglich ist.“, sagt Chrudina.
Den Auftakt zu „After the Fall“ hatte bereits im November 2008 Nicoleta Esinencu in Chişinău in der Republik Moldau gemacht. In ihrem hochpolitischen Stück „Antidot“, zu Deutsch „Gegenmittel“, beschreibt sie eine dunkle Welt nach dem Mauerfall. Es handelt von Abstumpfung gegenüber Gewalt, Waffen und Krieg. Neben bekannten Größen wie dem Polen Andrzej Stasiuk ist Nicoleta Esinencu eine Nachwuchsautorin, die sich mit ihren Projekten schon viel Lob erarbeitet hat.
Die Autoren führen ihre Stücke in Kooperation mit Theatern vor Ort auf. In Prag ist es die Theatergruppe „Letí“, die im Studio des Svandovo Theaters in Prag beheimatet ist. Die nächste Prager Aufführung von „Zazděná-Mauerschau“ wird am 25. Oktober stattfinden. Höhepunkt und gleichzeitig Abschluss des europaweiten Projekts bildet die Einladung einer Auswahl der Produktionen zu Gastspielen auf internationalen Theaterfestivals in Mühlheim und Dresden im November 2009.