„Meine Sozialisation an der Grenze hat mich geprägt“ – Historiker Rathkolb über seine Bezüge zu Tschechien
Im Frühsommer ist dem österreichischen Historiker Oliver Rathkolb eine große Ehre von tschechischer Seite zuteil geworden. Der langjährige Leiter des Instituts für Zeitgeschichte an der Uni Wien erhielt den Preis „Gratias agit“. Damit hat Außenminister Lubomír Zaorálek (Sozialdemokraten) jene Menschen geehrt, die sich besonders um das Ansehen Tschechiens verdient gemacht haben. Was also verbindet Oliver Rathkolb mit dem hiesigen Land? Dies reicht von der Herkunft seiner Familie mütterlicherseits über die Sozialisation an der tschechisch-österreichischen Grenze bis hin zu konkreten eigenen Projekten als Historiker.
„Diese Auszeichnung ist mir wirklich persönlich sehr wertvoll, weil ich in meiner ganzen Lebensgeschichte immer wieder auf tschechisch-österreichischen Beziehungen gestoßen bin. Und ich habe mich auch als Wissenschaftler damit auseinandergesetzt sowie Aktivitäten anderer ermöglicht. Das beginnt mit der Herkunft meiner Großmutter, die eine geborene Nový ist – sozusagen die typische Mischung der Habsburger Monarchie. Ich bin am Eisernen Vorhang, in der nördlichsten Stadt Österreichs aufgewachsen und dann jeden Tag entlang der Grenze in die Mittelschule gefahren.“
Und er erlebt das Jahr 1968. In der Tschechoslowakei setzen sich die Reformkommunisten durch, der sogenannte Prager Frühling führt auch zu einer zeitweiligen Öffnung der Grenzen. In Moskau befürchtet man jedoch, das Land könnte aus dem Ostblock ausscheren. Deswegen schickt der Kreml am 21. August des Jahres seine Truppen dort hin und besetzt das Land für die folgenden 21 Jahre. Ein traumatisches Erlebnis für die Tschechen und Slowaken. Kurz zuvor fährt ein Teil der Familie Rathkolb ins Nachbarland, Oliver Rathkolb ist damals zwölf Jahre alt:
„Man hat gespürt, dass sich da eine Katastrophe zusammenzubrauen beginnt.“
„Meine erste Erinnerung an Prag und die damalige Tschechoslowakei war ein Besuch mit meinem Bruder und meiner Schwägerin im Juli 1968, als man gespürt hat, dass sich da eine Katastrophe zusammenzubrauen beginnt. Aus diesem Grund habe ich sehr bald nach 1989/90 begonnen, auf reine Privatinitiative – mit Unterstützung des Landes Niederösterreich und des Wissenschaftsministeriums – das Forschungs- und Ausstellungsprojekt ‚Kulturen an der Grenze‘ zu entwickeln. Das entstand in einem gemischt tschechisch-österreichischen Team. Es war auch eine Reihe von Kollegen dabei, die vor 1989 im Kommunismus Arbeitsverbot hatten. Und es war eine sehr wertvolle Erfahrung.“
Daraus wurde eine Wanderausstellung, die entlang der Grenze an 13 Orten gezeigt wurde – und zudem in den beiden Hauptstädten Prag und Wien.In den laufenden Jahren wagte sich Oliver Rathkolb immer weiter in die aktuelle politische Diskussion vor. So unter anderem mit einem 2002 erschienen Sammelband, zu dem der Historiker sagt:
„Da habe ich eine heiße Kartoffel angepackt, nämlich die Auseinandersetzung mit den Beneš-Dekreten. Das war die Zeit des Aufstiegs der FPÖ und Jörg Haiders in Österreich. Damals wurde die Debatte über die Vertreibung der deutschsprachigen Tschechinnen und Tschechen politisch instrumentalisiert. Wir haben versucht, das auf eine wissenschaftliche Ebene zurückzubringen. Das ist uns teilweise wohl auch gelungen. Das Buch, das Barbara Coudenhove-Kalergi und ich veröffentlicht haben, war sehr erfolgreich, was für einen wissenschaftlichen Sammelband eher ungewöhnlich ist. Wir haben uns aber wirklich auch bemüht, die öffentliche Debatte von damals positiv zu beeinflussen.“
Neben den erwähnten Projekten hat Oliver Rathkolb aber vor allem drei Jahrzehnte lang eine intensive Zusammenarbeit mit der Prager Karlsuniversität gepflegt. So lehrte der Professor am Institut für internationale Studien der dortigen Alma Mater.„Eines meiner spannendsten Erlebnisse als akademischer Lehrer war ein Seminar mit tschechischen und österreichischen Studierenden, bei dem wir die nationalen Perspektiven getauscht haben. Das heißt, die Prager Studierenden haben über die Ära des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky gearbeitet. Und die österreichischen Studierenden über den Prager Frühling. Ich muss sagen, das ist extrem gut gelungen und hat gezeigt, dass man langsam, in einer jüngeren Generation, durchaus imstande ist, die historischen Erfahrungen und Erinnerungen zumindest der Nachbarstaaten zu verstehen und kritisch zu reflektieren.“
„Wenn ich hierherfahre, läuft da emotional etwas ab, obwohl ich kaum Tschechisch spreche.“
Für seine Seminare und Vorlesungen musste Oliver Rathkolb regelmäßig nach Prag fahren. Zwar trennen Wien und die tschechische Hauptstadt nur etwa 300 Kilometer, dennoch waren es für den Historiker immer besondere Besuche:
„Emotional läuft da etwas anderes ab, obwohl ich kaum Tschechisch spreche. Ich kann etwas lesen, aber auch das viel zu schlecht. Es hängt zudem wohl damit zusammen, dass ich einige Zeit darauf verwendet habe herauszufinden, wie massiv der Assimilationsdruck auf meine Großmutter damals gewesen ist. Ich habe Fotos von ihr als junges Mädchen gefunden, in traditioneller böhmischer Tracht. Meine Mutter hat hingegen kein Wort Tschechisch mehr gesprochen, obwohl sie damals in Gmünd noch mit der offenen Grenze nach České Velenice aufgewachsen ist. Da merkt man den ganz starken Assimilationsdruck.“
Zudem sagt Oliver Rathkolb, dass ihn die Sozialisation an der tschechisch-österreichischen Grenze geprägt habe.Zur Preisverleihung im Juni war der Geschichtswissenschaftler erneut in Prag. Und da es diesmal nicht um die Arbeit ging, hatte er auch Zeit, auf eigenen Pfaden zu wandeln. Gibt es da auch so etwas wie Lieblingsorte in Prag?
„Ein Ort, den ich heute wieder völlig neu und besser kennengelernt habe, ist der Veitsdom. Ich hatte 1968, als ich zum ersten Mal in Prag war, auch gleichzeitig eine beginnende Grippe mit Fieber. Als ich damals im Veitsdom war, war das eine Erleichterung. Das ist also ein Ort, den ich sehr gerne mag, aufgrund dieser frühen Erfahrung. Und dann liebe ich es einfach, durch die Stadt zu streifen und in ein Kaffeehaus zu gehen. Das war auch immer so, als ich die Vorlesungen und Seminare hier gehalten habe. Meist bin ich mit dem Auto hierhergefahren, habe dann gemütlich Mittag gegessen und anschließend meine Vorlesung gehalten. Danach bin ich wieder zurück nach Wien. Insofern sind Kaffeehäuser eine wichtige Anlaufstelle gewesen.“