„Menschenrechte unterliegen wechselnden Interessen“ – Karel Schwarzenberg über die Ukraine-Krise, den IS und die Zukunft Russlands
Die Partei Top 09 befindet sich nach dem kometenhaften Start vor sechs Jahren längst wieder im Sinkflug. Seit vergangenem Herbst sind die Konservativen nicht einmal mehr in ihrer Hochburg Prag in Regierungsverantwortung. Die Stimme des Parteivorsitzenden Karel Schwarzenberg hat allerdings weiter Gewicht. Im Gespräch mit der russischen Redaktion von Radio Prag positioniert sich der Ex-Präsidentschaftskandidat als entschiedener Befürworter von Waffenlieferungen an die Ukraine. Außerdem glaubt Schwarzenberg, dass der Islamische Staat seinen Zenit bereits überschritten hat.
„Ich verhehle nicht, dass dies meiner Meinung nach notwendig ist. Zum Ersten, weil die Russische Föderation seit Jahren modernste Waffen an die Aufständischen in Luhansk und Donezk liefert. Und zum Zweiten, weil dort russische Offiziere und Einheiten eingesetzt sind. Aus diesen Gründen können wir uns dem nicht entziehen, der Ukraine wenigstens Waffen zu liefern, die nicht aus der Zeit der Sowjetunion stammen.“
Auslöser der Ukraine-Krise war das Assoziierungsabkommen mit der EU, das der damalige Präsident Viktor Janukowitsch im Herbst 2014 nicht unterzeichnet hat. Sein Nachfolger Petro Poroschenko will bis 2020 den EU-Beitritt beantragen. Doch ist der Beitritt der Ukraine überhaupt realistisch?„Zurzeit ist das gar kein Thema. Und ich würde das auch nicht in Frage stellen, denn es ist ja bekannt, dass gemäß der Aufnahmekriterien gar kein Land beitreten kann, das sich in einem außenpolitischen Konflikt befindet. Das ist auch einer der Gründe, weshalb Russland diesen kleinen Krieg führt – damit es immer darauf verweisen kann, dass die Ukraine nicht in die EU kann. Doch während sich die Türkei mehr und mehr von der EU entfernt, nähert sich die Ukraine der EU immer stärker an. Sie übernimmt zum Beispiel europäische Normen. Natürlich wird der Prozess lange dauern. Wir dürfen nicht vergessen, dass es auch im Falle Tschechiens – obwohl wir ja keine solchen Probleme hatten wie die Ukraine – einige Jahre gedauert hat. Bei der Ukraine wird sich das in die Länge ziehen.“
Wie in Deutschland wird auch in Tschechien darüber diskutiert, ob und wieviel Geduld mit Putin angebracht ist. Die „Russland“-Versteher, das sind für Schwarzenberg überwiegend Menschen, die noch nicht mitbekommen haben, dass die Ukraine inzwischen ein selbstständiger Staat sei und nicht länger ein Bestandteil des russischen Imperiums.„Außerdem dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass wir heute in der Tschechischen Republik ein sehr dichtes Netz von Menschen haben, die für Russland arbeiten. Ein Teil davon stammt noch aus alten Zeiten, ein Teil aus jüngerer Vergangenheit. Wir haben hier Wirtschaftsinteressen, genauso wie alte pro-russische Sympathien. Es sind verschiedene Gründe. Doch es ist richtig, dass wir hier eine relativ gefestigte Minderheit haben, die sich auf die russische Seite schlägt.“
Dass die Kritik an Russland nicht in allen Ländern gleich stark ist, erklärt Schwarzenberg mit der Geschichte der europäischen Teilung.
„Es gibt natürlich Menschen, die Russland ferner stehen. Sie haben nicht diese kritische Sichtweise wie Länder, die einst Mitglieder des Comecon und des Warschauer Paktes waren und die russische Armee in ihrem Land hatten. Das ist einfach die Schlüsselerfahrung, die dann die weitere Entwicklung, die Sichtweise prägt.“Ein Fürsprecher Russlands in Tschechien ist Staatspräsident Miloš Zeman. Ihm ist Schwarzenberg vor zwei Jahren im Kampf um das höchste Staatsamt unterlegen. Worin sieht Karl Schwarzenberg die Gründe für Zemans Haltung?
„Ich denke, zum Teil ist es einfach Eitelkeit. Denn ich würde mal so sagen: Putin behandelt Zeman wie einen ernstzunehmenden Staatsmann. Er hat eine ganze Reihe von Leuten in der Präsidentenkanzlei, die für russische Interessen arbeiten. Daneben bestehen wirtschaftliche Interessen. Natürlich ist ein Teil der tschechischen Wirtschaft tatsächlich in gewisser Weise von Russland abhängig, aber doch lange nicht in dem Ausmaß, wie man uns versucht weiszumachen.“Im vergangenen September bezeichnete Zeman die Ukraine-Krise wörtlich als „Grippe“. Also: eine vorübergehende Angelegenheit. Viel größer ist nach Ansicht des tschechischen Präsidenten die Gefahr durch die Milizen des Islamischen Staates. Schwarzenberg ist anderer Meinung:
„Es ist doch bekannt, dass der Islamische Staat seinen Zenit schon überschritten hat. Seit dem Zeitpunkt, als die Peschmerga-Kämpfer ausreichend bewaffnet wurden, und die internationale Allianz gegen den IS, also Franzosen, Engländer und später auch arabische Staaten begonnen haben, Stützpunkte des Islamischen Staates Standpunkte zu bombardieren. Der IS wurde also in seinem Vormarsch gestoppt und musste sogar einige seiner Positionen aufgeben. Er hat eindeutig seinen Zenit überschritten. Es kann also nicht sein, dass der Islamische Staat als einzige Gefahr hingestellt und umgekehrt dann behauptet wird, dass uns die Dinge in unserer unmittelbaren Nachbarschaft nichts angingen.“ Das Argument, dass Putin in Russland das kleinere Übel sei, dem noch viel ärgere Nationalisten nachfolgen könnten, hält Schwarzenberg nicht für plausibel.„Es besteht ja auch die Möglichkeit, dass auf Putin eines Tages ein besonnener und vernünftiger Mensch folgt. Es muss auch in Russland nicht immer schlecht ausgehen. Natürlich ist es richtig, dass die schwachen Anfänge der russischen Demokratiebewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der wahnwitzigen bolschewistischen Revolution und mit massenhaften Morden geendet haben. Doch es gab auch Alternativen. Nur leider haben sich Politiker wie Lwov und Kerenski oder die Reform-Kräfte nach dem Krieg gegen Japan nicht durchgesetzt.“
Ein weiteres Thema, das Tschechien bewegt ist die zunehmende Islamfeindlichkeit. Einige Politiker spielen bewusst mit anti-islamischer Rhetorik, zudem gibt es eine populäre Facebook-Plattform namens „Wir wollen den Islam in Tschechien nicht“. Dabei ist der Bevölkerungsanteil der Muslime mit dem in Sachsen vergleichbar, das heißt: verschwindend gering. Worin liegen die Ursachen für die zunehmende Islam-Feindlichkeit?
„Weil hier die Propaganda selbstverständlich einen großen Einfluss hat. Dann gibt es eine allgemeine Angst vor dem Unbekannten. Dazu kommen die Hinrichtungen, die der Islamische Staat vorgenommen hat, die verschiedenen Attentate. Das sind die Gründe. Ich glaube aber nicht, dass es sonderlich tief geht. Das hat sich erst in den letzten Jahren entwickelt.“Trotz Appellen aus anderen EU-Ländern hat sich Tschechien bislang überwiegend ablehnend gezeigt, was die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen, zum Beispiel aus Syrien angeht. Steht zu befürchten, dass Tschechien aufgrund der zunehmenden Islamophobie Menschen muslimischen Glaubens abweist?
„Das wäre schrecklich. Meiner Meinung nach sind wir dazu verpflichtet, jeden politischen Flüchtling bei uns aufzunehmen, der hier angelangt. Da dürfen wir keine Unterschiede machen. Menschen, die bedroht werden, müssen wir bei uns aufnehmen. Das ist eine der besten tschechischen Traditionen.“Karel Schwarzenberg setzt sich seit langem explizit für die Menschenrechte ein. 1984 wurde der damalige Emigrant Vorsitzender der Helsinki-Föderation für Menschenrechte mit Sitz in Wien. Doch wie erklärt Karel Schwarzenberg heute der Allgemeinheit, dass Menschenrechte vor Wirtschaftsinteressen stehen sollten?
„Leider ist es so, dass die Menschenrechte, so wie alle menschlichen Ideen und Taten, wechselnden Interessen unterworfen sind. Nach einer Weile ebbt das Interesse wieder ab. Es ist richtig, dass es zwei Elemente gibt. Zum einen wirtschaftliche Interessen. In dem Augenblick, als die europäische Wirtschaft die großen Möglichkeiten in Staaten gesehen hat, die sich nicht groß um Menschenrechte kümmern, hat sie Druck auf die Politik aufgebaut. Und zweites gibt es das Argument, dass sich in der heutigen globalisierten Welt unsere Auffassung von Menschenrechten nicht auf andere Kulturen übertragen lässt. Das sind große Diskussionen. Aber ich gebe zu, dass es in einem gewissen Rahmen vor einem Vierteljahrhundert einfacher war, sich für Menschenrechte einzusetzen als heutzutage.“