Motiv: Menschenhass

Olga Hepnarová (Foto: YouTube)
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Kein Kriminalfall erschütterte die Tschechoslowakei mehr als die Amokfahrt von Olga Hepnarová. Bis heute läuft es einem da kalt den Rücken herunter, zugleich sind manche fasziniert von dem Verbrechen. Was genau passierte aber am 10. Juli 1973? Und was bewegte die junge Frau zu der beispiellosen Bluttat?

Tatort  (Foto: Archiv des Museums der Polizei)
Der 10. Juli vor genau 45 Jahren war ein schöner Sommertag. Auch auf dem Prager Strossmayer-Platz und der Straße Obranců míru, heute trägt sie den Namen von Milada Horáková, genießen die Menschen die Sonne beim Einkaufen, Eisessen oder bei einem Spaziergang.

Am Ostrand der Stadt, im Viertel Hostivař, besteigt eine junge Frau einen Leih-Lkw der Marke Praga. Sie absolviert eine Testfahrt, drückt dem Angestellten der Autovermietung 280 Kronen in die Hand und fährt los. Das Ziel von Olga Hepnarová – wie die zierliche 22-Jährige mit dem markanten Topfschnitt heißt – ist zunächst ein Postamt in der Nähe. Sie verschickt zwei Briefe, jeweils an eine Zeitungsredaktion. Danach fährt sie weiter, ohne ihr genaues Ziel zu wissen. In der Tasche hat sie sieben Zigarettenschachteln, für jetzt und später. Am Ende steuert sie den Strossmayer-Platz an, umrundet ihn einmal – und tritt dann aufs Gas.

„Acta non verba“

Tatort heute  (Foto: Dezidor,  Wikimmedia Commons,  CC BY 3.0)
„Überall waren Geschrei, Blut und Verletzte. Die anderen Menschen standen wie geschockt herum. Vor Ort waren drei Ärzte und zehn Sanitäter“, beschreibt Karel Skružný, was danach geschah. Er selbst ist zu dem Zeitpunkt als Rettungssanitäter im Einsatz. Olga Hepnarová hat den Lkw in eine Menschenmenge an einer Tramhaltestelle gesteuert – über 30 Menschen sind teils schwer verwundet, drei sind auf der Stelle tot, fünf weitere erliegen später ihren Verletzungen. Olga Hepnarová selbst steigt aus, zündet sich eine Zigarette an und wartet auf die Polizei. Vladimír Mikuláš war damals Beamter:

„Ich habe in der František-Křížek-Straße gearbeitet, das ist da gleich ums Eck. Eigentlich habe ich schon Feierabend gemacht und war bereits in Zivil, als uns die Tat gemeldet wurde. Da musste ich natürlich helfen. Ich habe Olga Hepnarová schließlich zum Auto eines Kollegen geführt, sie hat nicht gesprochen und war nicht ganz bei sich. Mein Kollege hat dann gesagt, dass sie alles absichtlich gemacht habe. Ich konnte das nicht glauben. Du hast da etwas falsch verstanden, sagte ich zu meinem Partner.“

Hepnarovás Brief
Tatsächlich war es kein Unfall. Beim ersten Verhör bestätigt das Olga Hepnarová selbst, klar wird es aber spätestens am nächsten Morgen. Bei den Redaktionen der Blätter Mladý svět und Svobodné slovo geht nämlich folgendes Bekennerschreiben ein. Ein Ausschnitt, Zitat:

„Ich bin ein zerstörter Mensch, vernichtet von den Menschen. Ich habe also die Wahl: Entweder bringe ich mich um, oder ich töte andere. Und ich habe mich entschieden: Ich zahle meinen Peinigern alles zurück. Wenn ich als unbekannter Selbstmörder abgehen würde, dann würde ich es Euch zu leicht machen… Ich, Olga Hepnarová, Opfer Eurer Bestialität, verurteile Euch zum Tode durch Überfahren. Ich verkünde dabei, dass für mein Leben x Menschen noch zu wenige sind. Acta non verba.“

Eine geschundene Seele

Olga Hepnarová  (Foto: Archiv des Museums der Polizei)
Doch wer ist Olga Hepnarová? Geboren wird sie 1951 in Prag, wo sie auch als Tochter einer Zahnärztin und eines Bankangestellten aufwächst. In ihrer Kindheit fällt sie nicht besonders auf, was sich aber in der Pubertät ändert. Als Jugendliche wächst in ihr das Bewusstsein, eine gequälte Seele zu sein. Bei Verhören sagt sie aus, Zitat:

„Alle Erwachsenen in meiner Familie behandeln mich so, als ob ich ein Findelkind wäre. Auch meine ältere Schwester stand mir negativ, ja sogar feindlich gegenüber. Schon damals hat das angefangen, was so weit ging, dass meine Seele vollkommen entstellt war.“

Olga wird zum Problem. Sie zieht sich zurück, am Ende zündet sie sogar das Ferienhaus der Familie an. Die Schwester und weitere Verwandte können sich nur knapp vor dem Flammentod retten. Dass die Wurzeln für Hepnarovás psychische Entgleisung wahrscheinlich in der Familie liegen, bemerkt damals auch Pavel Pavlovský. Er erstellt als Psychiater im Gefängnis ein Gutachten über Hepnarová. Vor wenigen Jahren verwies der Arzt in einem Gespräch für den Tschechischen Rundfunk noch auf etwas ganz anderes:

„Unser Eindruck war, dass wir eine junge Frau vor uns haben, die sich ihr ganzes Leben lang schon verletzt fühlt. Ihrer Meinung nach lag das auch an der elterlichen Erziehung. In der Schule dann verstärkte sich das Gefühl der Minderwertigkeit, aber auch die Bereitschaft zum Kampf gegen ihre Mitmenschen. Das führte bei ihr zu dem Drang, sich an der Gesellschaft zu rächen.“

Hepnarovás Lkw  (Foto: Archiv des Museums der Polizei)
Tatsächlich kommt Hepnarová mit dem sozialen Gefüge um sich herum nicht zurecht, was durch ihre unterdrückte Homosexualität noch gesteigert wird. Als Resultat steht eine Art Verfolgungswahn, hinter jedem Rempler in der Trambahn oder auf der Straße vermutet sie eine Verschwörung gegen sich. Immer mehr und mehr verrennt sie sich in blankem Menschenhass. Das wird auch bei den Verhören deutlich, so sagt sie beispielsweise, Zitat:

„Wenn es um die Toten und Verletzten durch meine Tat geht, da empfinde ich absolut keine Reue. Was mit leid tut, ist der Sachschaden, den ich verursacht habe. Das war wirklich ein Versehen.“

Trost sucht sie in der Einsamkeit, sie zieht sich in ein kleines Ferienhaus bei Náchod in Nordostböhmen zurück. Ironischerweise findet sie gerade beim Autofahren einen Ausweg aus ihrem Wahn. Mit ihrem Trabbi fährt sie nächtelang durch die Gegend. Irgendwann reicht aber auch das nicht mehr, kurz vor ihrer Tat stürzt sie den Wagen eine Klippe bei Prag hinunter.

Ein juristischer Ausnahmefall

Olga Hepnarová  (Foto: YouTube)
Die Ermittler finden Olga Hepnarová neben dem Tatfahrzeug, sie raucht und wartet mit unheimlicher Ruhe auf die Beamten. Zunächst ermitteln die Behörden in alle Richtungen, auch die Staatsicherheit ist involviert. Man vermutet nämlich erst ein politisches Motiv: Wenige Jahre zuvor war der Prager Frühling niedergeschlagen worden, und gerade 1973 jährt sich die Machtübernahme der Kommunisten zum 25. Mal. Zudem habe auch die Staatsanwaltschaft nicht glauben können, dass Hepnarovás kranke Psyche hinter der Amokfahrt gestanden habe, wie der ehemalige Polizeirat Miloslav Dočekal meint. Er erinnerte sich vor Jahren kurz vor seinem Tod im Tschechischen Rundfunk an die Ereignisse:

„Als ich an einem Verhandlungstag dabei war, redete der Staatsanwalt auf Hepnarová ein. ‚Sie müssen doch irgendwo die Kontrolle über sich verloren haben, ihnen muss doch schlecht geworden sein‘, sagte er. Sie bestand aber die ganze Zeit darauf, dass sie ihre Tat absichtlich und in vollem Bewusstsein begangen habe.“

Foto: Verlag Pražská imaginace
Am 6. April 1974 wird Olga Hepnarová zum Tode verurteilt. Bis der Rechtsspruch vollzogen wird, soll es aber noch dauern. Der tschechoslowakische Premier Miroslav Štrougal vertritt damals den schwerkranken Präsidenten Ludvík Svoboda, und er zögert seine Unterschrift unter das Todesurteil hinaus. Angeblich liegt es daran, dass 1974 zum Jahr der Frau erklärt worden war. Später stimmt der Interimspräsident doch noch zu, einem letzten Gnadengesuch der Mutter Hepnarovás zum Trotz. Am 12. April 1975 wird Olga Hepnarová im Gefängnis Prag-Pankrác zum Galgen geführt, sie erleidet dabei einen psychischen Zusammenbruch. Es ist das erste Zeichen von Emotion seit ihrer Verhaftung. Die Mehrfachmörderin ist die letzte Frau, die in der Tschechoslowakei hingerichtet wird.

Faszination des Bösen

Die Tat von Hepnarová umgibt nicht nur eine Aura des Grauens, sondern es geht auch eine besondere Faszination von ihr aus. 1991 veröffentlichte Bohumil Hrabal in seinem Buch „Ponorné říčky“ das fiktive Geständnis eines Henkers, der eine „schöne junge Frau“ aufs Schafott führen soll. Bis heute haben sich zahlreiche Schriftsteller, Musiker und Filmemacher mit Olga Hepnarová beschäftigt, was auch zu unterschiedlichen Interpretationen des Falls geführt hat. Roman Cílek hat zwei Bücher darüber geschrieben. Er will trotz allem eine politische Dimension hinter der Tat sehen:

Film „Já,  Olga Hepnarová“
„Sie war ein Opfer des Systems, auch wenn ihre Tat an sich nicht politisch war. Erst danach war es im Interesse der Obrigen, mit der Strafe ein Exempel zu statuieren. Denn so etwas konnte nur im ‚bösen Westen‘ passieren und nicht in einer friedliebenden sozialistischen Gesellschaft.“

Zuletzt verfilmten Tomáš Weinreb und Petr Kazda die Geschichte Hepnarovás – „Já, Olga Hepnarová“ / „Ich, Olga Hepnarová“ war sogar der Eröffnungsfilm bei der Berlinale 2016. Roman Cílek stand den Regisseuren beratend zur Seite. Einen Aspekt des Filmes findet er besonders interessant:

„Als sie anfingen, sich mit dem Thema zu beschäftigen, waren die Regisseure etwa gleich alt wie Olga. Das ist interessant, denn hätte den Film ein 60-Jähriger gedreht, wäre vielleicht etwas anderes dabei herausgekommen. Sie haben mir gesagt: ‚Wir machen einen Film über die Einsamkeit und ihre zerstörerischen Folgen.‘“

Doch nicht nur die Kunst hat Hepnerovas Verbrechen verarbeitet, auch spätere Gewaltverbrecher beriefen sich auf sie – so etwa der Serienmörder Viktor Kalivoda. Oder Michelle Sudků: Die psychisch kranke Obdachlose stach vor zwei Jahren in einem Prager Einkaufzentrum eine Frau nieder.