„Nach der Samtenen Revolution“: Zeitungsberichte aus 25 Jahren als Theaterstück

„Nach der Samtenen Revolution“ (Foto: Archiv des Prager Nationaltheaters)

Die Produktion „Po Sametu“ – „Nach der Samtenen Revolution“ – am Prager Nationaltheater lässt die letzten 25 Jahre Revue passieren: Das Stück spannt einen Bogen von der Zeit nach der sogenannten Samtenen Revolution von 1989 bis ins Jubiläumsjahr 2014. Und das anhand von Zeitungsartikeln und Titeln.

„Nach der Samtenen Revolution“  (Foto: Archiv des Prager Nationaltheaters)
Zum ersten Mal variierende Preise in unterschiedlichen Geschäften, zum ersten Mal ein Englisch-Schnellkurs mit Muttersprachlern, zum ersten Mal ein Riesenkonzert der Rolling Stones in Prag. Seit der Wende 1989 hat sich viel verändert. Das Stück „Po Sametu“ – „Nach der Samtenen Revolution“, das noch bis Mai im Prager Nationaltheater läuft, verfolgt humorvoll diese positiven und negativen Entwicklungen. Dem Regisseur Jiří Adámek war es wichtig, sowohl die guten, als auch die schlechten Seiten der vergangenen Jahre aufzuzeigen:

„Ich wollte diesen Zeitraum und die verschiedensten Probleme ins Gedächtnis rufen und gleichzeitig einen Blick auf die Gesellschaft heute werfen. Vor 25 Jahren hatten wir ein rigides, totalitäres, nicht funktionierendes System, und jetzt haben wir eine gut funktionierende Demokratie. Dieser grundsätzlich positiven Entwicklung wollte ich all die peinlichen Probleme, politischen Rückschritte, die Korruption und die Xenophobie der letzten Jahre entgegenstellen. Um diese Konfrontation ging es mir.“

Jiří Adámek  (Foto: Archiv von Jiří Adámek,  ČRo)
Adámek will zum Denken anregen über die Probleme in der aktuellen Politik und Gesellschaft seines Landes. Ein Thema empfand er dabei als besonders dringend:

„Mir war sehr viel daran gelegen, Rassismus anzusprechen, vor allem gegen Roma. Dieses Verhalten ist noch immer allgegenwärtig, auch wenn man mittlerweile darüber Bescheid weiß. Wir sind nicht fähig, andere menschlich aufzunehmen, für die wir meiner Meinung nach Verantwortung haben. Wir zwingen sie dazu, sich unserem Lebensstil anzupassen. Aber wir haben viel: Wir haben Geld, wir haben es angenehm. Und sie haben es schwer. Wenn wir es nicht schaffen, diese Personen menschlich aufzunehmen, dann haben wir als Gesellschaft ein Problem.“

Zeitungszitate als Textgrundlage

Ivan Lamper  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Als Textgrundlage für das Stück diente eine Rubrik aus dem renommierten Wochenmagazin „Respekt“. Die bereits seit 23 Jahren erscheinende Rubrik „Minulý týden“ zeichnet ein humoristisches Bild der Ereignisse der abgelaufenen Woche. Der Autor, Ivan Lamper, verwendet dafür ausschließlich Überschriften und kurze Zitate aus Zeitungen. Regisseur und Dramaturg haben aus über 3000 Seiten Rohmaterial ein Stück gebastelt, das durch die Zeitungsberichterstattung eines Vierteljahrhunderts führt.

„Es war meine Idee, diese Rubrik als Ausgangspunkt zu verwenden. Mir macht es Spaß, mit Sprache zu spielen, und als Ausgangsmaterial verwende ich gerne Texte, die einen interessanten Zugang zur Sprache haben. Diese Rubrik zeichnet sich dadurch aus, dass sie kurze journalistische Formulierungen nebeneinanderstellt. Und diese sehr spezifische Sprache hat mir daran gut gefallen. Gemeinsam mit dem Dramaturgen habe ich mir dann diese 3000 Seiten Text vorgenommen. Wir haben so lange diskutiert, bis es eine Struktur hatte und klar war, was wir verwenden wollen und was wir weglassen“, so Adámek.

Aliens und Tiere

„Nach der Samtenen Revolution“  (Foto: YouTube)
Ein in der Stückfassung überraschend oft auftauchendes Thema sind Weltraum, Aliens und Ufos. Jiří Adámek:

„Das Weltall habe ich verwendet, um ein bisschen von der Sachlichkeit in der Berichterstattung wegzukommen und das Ganze ein bisschen aufzulockern. Auch die Rubrik benützt dieses Prinzip: Dort stehen aktuelle politische Ereignisse neben Neuigkeiten aus dem Weltall. Unser Stück war sehr textlastig, und das Thema Weltraum und Ufos hat es mir ermöglicht, von der Sprache ein bisschen wegzukommen und durch musikalisch-stimmlich abstrakte Klänge zu streifen.“

„Nach der Samtenen Revolution“  (Foto: YouTube)
Warum Tschechen sich so sehr für Ufos begeistern können, dass es selbst in der Zeitungsberichterstattung ein so häufig wiederkehrendes Thema ist, auch dafür hat der Regisseur eine Erklärung:

„Statistisch gesehen ist Tschechien das atheistischste Land Europas. Aber faktisch sind zum Beispiel die Franzosen viel atheistischer. Das ist eine wirklich rationale, analytische, intellektuelle Nation. Tschechen sind Mystiker. Der Großteil der Gesellschaft ist abergläubisch, geht zu Kartenlegerinnen und Hexen. Das ist vielleicht lächerlich, aber wir brauchen etwas, das uns übersteigt, das nicht völlig rational ist.“

„Nach der Samtenen Revolution“  (Foto: YouTube)
Eine unerwartet große Rolle spielen in dem Theaterstück Tiere. Textstellen über ein neues Löwenbaby, dass im Zoo geboren wurde oder Ähnliches kommen immer wieder vor. Auch die Ästhetik des Theaterabends ist stark von dieser Thematik geprägt: Wiederholt werden großformatige Bilder von Tieren und Landschaften auf die Bühnenrückwand projiziert.

„Mit den Tieren ist es ähnlich wie mit dem Weltraum. In 23 Jahren haben wir auch große Fortschritte in der Ökologie gemacht. Mir ging es dann um diese Konfrontation: die Menschen und ihr Drama – und daneben das Weltall auf der einen und Tiere auf der anderen Seite“, sagt der Regisseur.

Theater wird musikalisch komponiert

„Nach der Samtenen Revolution“  (Foto: YouTube)
Jiří Adámek ist bekannt für seine neue musikalisch-verbale Form des Theaters: die „neue Voice-Band“. Die Sprache wird zu einem Sprechgesang, rhythmisch, oft vielstimmig, manchmal melodisch.

„Ich habe einen Weg gesucht, musikalische Gedanken, die ich brauche, mit einer für das Theater typischen Herangehensweise organisch zu verbinden. Ich wollte das musikalische Komponieren, das Element der Töne, die Feinheit, die Liebe zum Detail aus der Musik mit dem Theater zu verbinden.“

„Nach der Samtenen Revolution“  (Foto: YouTube)
An diesem Ansatz arbeitet Jiří Adámek schon längere Zeit, mittlerweile hat der Regisseur mit der „Neuen Voice-Band“ eine Theaterform gefunden, die für ihn aufgeht.

„Die Schauspieler verwenden Klänge und Worte, sie sprechen rhythmisch, melodisch: Es ist halb Musik, halb Wort. Der Zugang zeichnet sich auch aus durch das Verwenden einer untypischen Sprache, durch das Verwenden von Mikrophonen und Tönen, zusammen mit unterschiedlichen Arten des rhythmischen Sprechens oder mit Sprechgesang. So ist das schließlich alles zusammengekommen, und es hat begonnen sich in eine Richtung zu entwickeln, in der sich Musiktheater mit experimentellem Theater verbindet und in der der Regisseur wie ein Komponist agiert und das Theater sozusagen musikalisch komponiert.“

Schrille 90er-Jahre-Ästhetik

„Nach der Samtenen Revolution“  (Foto: YouTube)
In „Nach der Samtenen Revolution“ tänzeln Schauspieler in weiten Hosen und mit Schulterpolstern versehenen Sakkos in bunten Farben über eine mit Kunstrasen überzogene Bühne. Das Bühnenbild erinnert ein bisschen an einen Minigolfplatz: kleine Hügel, auf denen Miniaturschlösser thronen, Bonsaibäumchen, in der Mitte ein großes Sandbecken. Im Hintergrund rattern die Jahreszahlen über eine Leinwand. Diese Schrille passt zu der starken Abstraktion des ganzen Theaterabends und lässt den Hintergrund des Regisseurs erahnen. Adámek studierte Regie an einer stark auf Puppenspiel spezialisierten Schule:

„Nach der Samtenen Revolution“  (Foto: YouTube)
„In der für Puppenspiel charakteristischen Herangehensweise hat der Rhythmus eine große Bedeutung. Des Weiteren ist die Verbindung von verschiedenen Elementen auf der Bühne wichtig, zum Beispiel die Einsicht, dass Schauspieler nicht das Wichtigste sind, dass sich nicht alles um sie dreht, sondern dass die Schauspieler auch dem Material, der Puppe, dem Bühnenbild dienen können. Typisch für das Puppentheater ist auch eine gewisse Verspieltheit. Diese aus dem Puppenspiel hervorgehende Denkweise hat mich zweifellos stark beeinflusst.“

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