Nach tagelanger Obstruktion: Neue parlamentarische Geschäftsordnung nötig?
Ganze sechs Tage wurde im tschechischen Abgeordnetenhaus sprichwörtlich Tag und Nacht über die Reformgesetze der Regierung gesprochen. Die Opposition hielt endlos lange Reden, die Regierung wiederum nutzte ihre Mehrheit für eine Begrenzung der oppositionellen Redezeit. Die Gesetze, die verabschiedet werden sollten, gerieten dabei in den Hintergrund und jetzt wird überlegt, die Geschäftsordnung des Parlaments zu ändern, um künftige Obstruktionen zu verhindern.
Die sozialdemokratische und kommunistische Opposition entschloss sich nämlich, mit Dauerreden und anderen Obstruktionen die Verabschiedung der Gesetze zu stören. Sie lehnt unter anderem die Neuregelung der Auszahlung von Arbeitslosengeld ab, ebenso die Anhebung der Mehrwertsteuer für Grundnahrungsmittel und die viel diskutierte Rentenreform.
Die Koalition schien dem bunten Treiben der Opposition zunächst nur ratlos zuzusehen. Doch dann griff sie mit ihrer Mehrheit zu einer faktischen Begrenzung der Redezeit der Abgeordneten, in dem sie erreichte, dass die Aussprachen zu allen auf dem Programm stehenden Vorlagen zusammengelegt wurden. Somit war klar, dass die Verzögerungstaktik der Opposition früher oder später ein Ende haben würde: nämlich dann, wenn auch der letzte oppositionelle Abgeordnete seine Redezeit ausgeschöpft hatte. Kein Wunder, dass die Opposition diese Vorgehensweise scharf verurteilte, wie dies zum Beispiel Sozialdemokraten-Chef Bohuslav Sobotka am Sonntag im öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehen tat:„Die Regierung hatte die Möglichkeit, ihre so genannten Reformgesetze früher vor das Parlament zu bringen. Was uns definitiv dann zur Überzeugung gebracht hat, dass es nicht möglich ist, über die geplanten Reformen nur einfach so abzustimmen, sind der Charakter der Gesetze und auch die arrogante Art, wie die Regierung diese Reformen ohne jegliche Debatte und ohne jegliches Zugehen auf die Opposition durchdrücken wollte. Die Regierung wollte einfach jeglichen Widerstand mit ihrer Mehrheit platt machen. Der wichtigste Grund ist aber die geplante Änderung des Rentensystems. Nach zwanzig Jahren sind wir erstmals mit dem Versuch konfrontiert, das Rentensystem teilweise zu privatisieren. Das ist eine unumkehrbare Änderung. Alles andere lässt sich nach den nächsten Wahlen wieder rückgängig machen, aber bei der Rentenreform wird das sehr schwierig werden. Deshalb wollen wir das verhindern. Es droht nämlich, dass die Rentner jegliches Vertrauen in das System verlieren und die öffentlichen Haushalte aus dem Lot geraten.“
Sobotka sah sich und seine Kollegen im Einklang mit der Meinung einer breiten Öffentlichkeit, die seinen Worten zu Folge in den vergangenen Monaten gegen die Reformen auf die Straßen gegangen sei.Anders war naturgemäß die Haltung die regierenden Bürgerdemokraten. Deren Fraktionschef Abgeordnete Zbyněk Stanjura:
„Ich denke nicht, dass es sich hier um eine typische Obstruktionstaktik gehandelt hat. Das war vielmehr ein Versuch, die Arbeit des Abgeordnetenhauses lahmzulegen. Ich muss den Aussagen von Sobotka scharf widersprechen, dass wir jeglichen Widerstand platt gemacht hätten. Wenn man im Parlament eine Mehrheit hat, dann wendet man sie eben auch an. Darin sehe ich nichts Verwerfliches. Alle Gesetze, die wir jetzt bereits zum vierten Mal behandelt haben, basieren auf dem Regierungsprogramm, und das Kabinett hat wiederum sein Mandat von den Wählern erhalten. Deshalb hat die Obstruktion keine Chance auf Erfolg.“Der Sozialdemokrat Sobotka wies des Weiteren darauf hin, dass das Dauerreden im Parlament vollständig durch die bestehende Geschäftsordnung gedeckt ist. Zudem habe seinen Worten zufolge seine Partei keine vollständige Blockade getätigt. Die Sozialdemokraten hätten ja schließlich den Staatshaushalt für das kommende Jahr passieren lassen sowie ein Gesetz über die Neuregelung bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen mit dem Ziel, die Korruption zu bekämpfen.
Schon jetzt scheint klar zu sein, dass die parlamentarische Marathonsitzung der letzten Tage ein juristisches Nachspiel haben wird. Die Sozialdemokraten und Kommunisten wollen nämlich wegen der faktischen Beschränkung der Redezeit für die oppositionellen Abgeordneten vor dem Verfassungsgericht klagen. Die Opposition glaubt, dass deswegen bei der Verabschiedung der Reformgesetze wichtige demokratische Prinzipien verletzt wurden. Schon einmal hat die Opposition mit einer ähnlichen Vorgangsweise Erfolg gefeiert. Im Herbst vergangenen Jahres schnürte die jetzige Koalition ihr erstes Sparpaket, drückte dieses allerdings im Eilverfahren durch beide Kammern des Parlaments – nicht zuletzt auch deshalb, weil sie damals im Senat noch eine Mehrheit hatte, aber diese bei den Ergänzungswahlen zu verlieren drohte. Das Verfassungsgericht gab der Klage der Opposition recht und hob die auf diese Weise verabschiedeten Gesetze wieder auf. Zu den jetzigen Erfolgsaussichten einer erneuten Verfassungsklage meint der Verfassungsjurist Jan Kysela von der juristischen Fakultät der Prager Karlsuniversität:„Mir scheint, dass aus dem, was das Verfassungsgericht bislang zum Thema der Wahrung von Minderheitenrechten gesagt hat, nicht hervorgeht, dass es sich hier um eine Verletzung der Verfassung gehandelt haben könnte. Das ist eher ein innerparlamentarisches Problem. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Hauptteil des gesetzgeberischen Prozesses, nämlich die drei Lesungen, bereits abgeschlossen ist und es dabei keine Einschränkung der Rechte der Opposition gegeben hat. Ich weiß natürlich nicht, wie das Gericht in dieser Frage entscheiden wird, aber es muss nicht zwingend dazu führen, dass alle beschlossenen Gesetze wieder aufgehoben werden.“
Laut Kysela sind die Vorgänge der letzten Tage im Parlament auch eine Folge der gegenwärtigen parlamentarischen Geschäftsordnung. Diese gilt ohne größere Veränderungen seit der Wiedereinführung des demokratischen Parlamentarismus in der Tschechischen Republik in den neunziger Jahren. Sie sorgte schon zum Beispiel während der vergangenen Präsidentenwahl im Jahr 2008 für großes Chaos, da in der Geschäftsordnung das gegenseitige Verhältnis beider Kammern nicht näher geregelt ist und sich bei der Präsidentenwahl Abgeordnetenhaus und Senat gegenseitig blockiert hatten. Dazu abschließend noch einmal der Verfassungsexperte Jan Kysela:„Ich bin vor allem der Meinung, dass die Geschäftsordnung des Parlaments von ihrem Konzept her schlecht aufgestellt ist, weil sie den einzelnen Abgeordneten zu großen Raum lässt. Das entspricht nicht den Ländern mit einem Verhältniswahlrecht, das dazu führt, dass im Parlament mehrere Fraktionen vertreten sind. Logischer wäre eine Regelung, wie es sie in Deutschland oder Österreich gibt, nämlich, dass der Hauptschwerpunkt der Parlamentsarbeit von den Fraktionen ausgeht.“