Nationaltrainer Bílek: Wende 1989 eröffnete auch uns Fußballern neue Möglichkeiten
Der Herbst im Wendejahr 1989 war nicht nur in politischer Hinsicht stürmisch. Auch auf anderen Gebieten ging es hoch her. In der damaligen Planwirtschaft wurde gestreikt, in Theatern und Kulturhäusern wurde hitzig debattiert und auf den Sportplätzen wurde noch leidenschaftlicher gekämpft als sonst. Letzteres trifft auch auf die Fußballer der Nationalmannschaft der damaligen Tschechoslowakei zu. Mit einem tollen Endspurt schafften sie noch die Qualifikation zur WM 1990 in Italien. Einer, der daran großen Anteil hatte, war der heutige Trainer der tschechischen Nationalelf, Michal Bílek. Lothar Martin hat ihn dieser Tage in seinem Büro besucht.
Jawohl, es war Michal Bílek, der im für Tschechen und Slowaken wohl wichtigsten Spiel des Fußballherbstes 1989 die Nerven behielt und mit seinen beiden Toren eine Vorentscheidung erzwang. Knapp drei Wochen später besiegte die ČSSR zu Hause auch die Schweiz mit 3:0, bevor sie am 15. November, also zwei Tage vor Beginn der Samtenen Revolution, mit einem 0:0 in Lissabon alles klarmachte. Auch gegen die Eidgenossen erzielte Bílek einen Treffer, so dass ich einfach fragen musste: Waren für Sie die Tore gegen Portugal und die Schweiz die wichtigsten in Ihrer Karriere?
„Das kann man wohl so sagen. Vor allem gegen Portugal haben meine beiden Tore dafür gesorgt, dass sich die Situation in unserer Qualifikationsgruppe zu unseren Gunsten drehte und wir auf einmal auf einem WM-Platz lagen. Ich kann daher mit Fug und Recht sagen: Diese beiden Spiele zählen für mich zu den wichtigsten und schönsten Begegnungen, die ich in meiner Karriere absolviert habe.“
Als direkter Augenzeuge der beiden Prager Spiele gegen Portugal und die Schweiz kann ich bestätigen, dass diese Partien in einer ausgelassenen und erwartungsfrohen Atmosphäre stattfanden. Nur wenige Tage zuvor hatten Tausende von Flüchtlingen aus der DDR die von ihnen als Zuflucht gewählte deutsche Botschaft verlassen dürfen, nachdem ihnen der ehemalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher die gewünschte Ausreise nach Westdeutschland zugesichert hatte. Bewegende Momente, die auch bei Bílek und seinen Mannschaftskameraden nicht spurlos vorübergingen:
„Wir wussten, dass sich in Prag sehr viele Flüchtlinge aus Ostdeutschland aufhielten, die versuchten, in die westdeutsche Botschaft und von da in die Bundesrepublik zu gelangen. Aber wir glaubten nicht daran, dass das ein Fanal sein wird, das auch bei uns eine derartige Bewegung auslöst, die bis hin zur Samtenen Revolution führen sollte. Im Stadion selbst war nicht zu sehen, dass so etwas passieren könnte. Hier ging es wirklich nur um Fußball und die große Bedeutung des jeweiligen Spieles.“Dennoch, schob Bílek nach, war in Prag immer deutlicher zu spüren, dass etwas in der Luft lag:
„Im Oktober und November spürten wir schon, es rührt sich auch bei uns etwas, denn aus Ostdeutschland kamen immer deutlichere Signale, dass das kommunistische Regime am Ende ist. Diese Entwicklung hat dann auch auf unsere Republik übergegriffen und gipfelte Gott sei Dank in den Ereignissen vom 17. November.“
Der politische Systemwechsel in der damaligen Tschechoslowakei, die unblutige Samtene Revolution, wurde in rund sechs Wochen vollzogen. Er begann mit dem Aufbegehren der Prager Studenten am 17. November und endete mit der Wahl des Schriftstellers und Bürgerrechtlers Václav Havel zum Staatspräsidenten am 29. Dezember 1989. Eine unglaublich emotionale Epoche, die auch Michal Bílek nicht vergessen hat:„Ich bin natürlich froh, dass es zu diesem 17. November überhaupt gekommen ist und dass es hier eine Samtene Revolution gegeben hat, die relativ gewaltfrei und ohne schwere Opfer ablief. Seitdem hat sich sehr viel geändert. Wir Älteren wissen noch, wie es früher hier ausgesehen hat. Doch wenn ich heute meinen Kindern erzähle, dass man vor der Wende nicht ungestraft seine Meinung äußern konnte, und dass die Situation insgesamt eine ganz andere war, dann wollen sie mir das gar nicht glauben. Dabei ist das in Anführungszeichen noch gar nicht so lange her, nur etwas mehr als 20 Jahre. Seitdem aber hat sich die Atmosphäre insgesamt entspannt, man kann reisen, wohin man will, die Unterschiede zur Vorwendezeit sind einfach markant. Sicher, auch heute haben nicht wenige Leute ihre individuellen Sorgen und Probleme, doch ich bin froh, dass sich alles gewendet hat, und wir heute in einem freien Land leben.“Die wieder gewonnene Freiheit eröffnete auch den Fußballern der damaligen Nationalmannschaft neue Perspektiven. Sie konnten 1990 nicht nur einfacher – privat oder mit ihren Teams – verreisen, sondern sie wurden jetzt auch als Spieler europaweit besser wahrgenommen. Von Managern, Beratern oder Spielerbeobachtern der renommiertesten Clubs, denen nicht verborgen blieb, was gerade die Auswahlkicker des Jahrgangs 1990 zu leisten vermochten. Die meisten von ihnen wurden gleich nach der Weltmeisterschaft in Italien im Ausland unter Vertrag genommen. Unter ihnen war auch Michal Bílek, der nach der WM zwei Jahre in Spanien bei Real Betis Sevilla spielte. Eine Erfahrung, mit der sich für ihn auch ein lang gehegter Traum erfüllte:„Schon vor der Wende, in der Zeit des Kommunismus, war es unser Wunsch, irgendwann einmal auch im Ausland zu spielen. Das war aber nicht möglich, denn damals durften nur Spieler außerhalb der Tschechoslowakei in Aktion treten, die entweder schon ein gewisses Alter erreicht oder bereits unzählige Einsätze in der Nationalmannschaft vorzuweisen hatten. Es war also sehr schwierig, als Spieler ins Ausland zu gehen. Durch die Ereignisse im Jahr 1989 aber hat sich das geändert. Die Grenzen öffneten sich, und so ergaben sich ganz andere Möglichkeiten auch für uns Spieler. So ist dann auch eine ganze Reihe von Nationalspielern nach der WM ins Ausland gegangen.“Das kam nicht von ungefähr, denn die tschechoslowakische Nationalmannschaft wusste vor und während der WM durchaus zu überzeugen.„Wir hatten ein sehr gutes Team. Die Mannschaft hatte gleich mehrere hervorragende Individualisten wie Ivan Hašek, Luboš Kubík, Jozef Chovanec, Ján Kocian, Tomáš Skuhravý, Stanislav Griga oder Ľubomír Moravčík. Das waren alles Klassespieler. Als Team haben wir unsere Qualität dann auch bei der WM bestätigt, bei der wir bis ins Viertelfinale vorgedrungen sind. Das war ein großartiger Erfolg.“
Der Gegner, an dem die tschechoslowakische Auswahl im Viertelfinale gescheitert ist, war übrigens der spätere Weltmeister Deutschland. Auch an dieses Spiel kann sich Bílek noch gut erinnern:„Wir trafen auf die Deutschen ausgerechnet im San Siro Stadion von Mailand. Damals kickten gleich drei Deutsche für Inter Mailand, und als wir dann gegen sie und die anderen Deutschen dort antreten mussten, wurden sie von rund 95 Prozent der Zuschauer im Stadion angefeuert. Das war also für uns ein ganz schweres Auswärtsspiel. Die Atmosphäre im Stadion aber war ausgezeichnet. Es ist schwer zu sagen, ob für uns damals noch mehr drin gewesen wäre als die knappe 0:1-Niederlage, die nur durch einen von Matthäus verwandelten Elfmeter zustande kam. Denn es war ein ausgeglichenes Spiel, in dem wir zum Ende der Partie sogar noch ein paar ganz gute Chancen hatten. Hätten wir ein, zwei davon genutzt, hätte der Spielverlauf auch anders aussehen können. Aber auch so bin ich der Meinung, dass der Einzug ins Viertelfinale für uns ein großer Erfolg war.“
Ein Erfolg, den man unter den neuen politischen Verhältnissen in der Tschechoslowakei auch richtig auskosten konnte. Die Besten der starken Tschechen und Slowaken konnten ihn, wie bereits erwähnt, zudem im Ausland versilbern. Und so zieht auch Bílek ein zufriedenes Fazit, wenn er heute über die Veränderungen nach 1989 spricht:„Im täglichen Leben hat sich natürlich alles vollkommen verändert. Wir können heute sagen, was wir denken, wir können reisen, wohin wir wollen, und das ohne bürokratische Ausreisepapiere. Früher gab es viele Dinge nicht zu kaufen, jetzt sind unsere Geschäfte genauso voll wie die im Westen. Die Lebensbedingungen sind heute um Vieles besser und freier.“